Nicht zu laut, nicht zu leise

Den richtigen Ton finden: Erinnerungen an den Turnlehrer, an Mielke und die Mutter

  • Friedrich Schorlemmer
  • Lesedauer: 4 Min.
»Tritt fassen – 52 Wochensprüche« heißt das neue Buch von Friedrich Schorlemmer, das dieser Tage im Verlag Kreuz (12,95 Euro) erscheint. Der Autor geht der existenziellen Bedeutung von Redewendungen nach. FÜr ND denkt der Autor in einem weiteren Beitrag (siehe ND vom 22. Juni) ebenfalls über eine Redewendung nach: den richtigen Ton finden.

Wer sich im Ton vergreift, muss die Folgen tragen. Mächtige(re) lassen da nicht mit sich spaßen. Der Ton macht die Musik; so sehr man in der Sache recht haben mag: Der falsche Ton verdirbt alles.

»Das war nicht der richtige Ton«, sag ich mir, sagst du mir, sag ich dir.

Und dann versuchen wir’s noch einmal. Anders. Im Ton. Und die Sache wird auch anders. Ein Glück, wo’s uns gelingt.

Können Sie sich noch erinnern, wenn Sie beim VPKA (Volkspolizeikreisamt mit Honeckerbild an der Wand und ausgefransten Sprelacart-Tischen auf Steinfußböden) einen Antrag für eine Westreise gestellt hatten … diese Gesichter, dieser Ton, diese Erniedrigung im Ton, nicht nur in der Sache?

Erinnern Sie sich noch – wenn Sie auf dem Reck nicht so richtig zurechtkamen – des spöttischen Tons des Turnlehrers oder jener Mitschüler, die in Deutsch so schlecht, in Sport aber gut waren?

Erinnern Sie sich des schmierigen Tones des Menschen, der Sie sonst nie angesehen hatte, nun aber etwas von Ihnen wollte und brauchte?

Erinnern Sie sich der ersten lallend-lieblichen Töne Ihres Kindes und des letzten Gewimmers der Großmutter?

Erinnern Sie sich, mit welcher gefassten Stimme von Weizsäcker am 8. Mai 1985 und am 3. Oktober 1990 sprach?

Erinnern Sie sich an Schabowskis »unwiderruflich« mitten im Pfeifkonzert am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz oder an das Gestammle dieses gefährlichen Zwergs Mielke am 13. November des gleichen Jahres vor der Volkskammer: »Ich liebe doch alle, alle Menschen.«

Erinnern Sie sich noch des bettelnden Tones, als Sie den Vater vergeblich anflehten, Ihnen doch ein Luftgewehr zu kaufen?

Erinnern Sie sich des liebkosenden Geflüsters im Arm Ihrer ersten großen Liebe?

Und beim Singen und Spielen den richtigen Ton finden, dem Tonklumpen eine Form geben und ihn dann brennen – ein Schöpfungsakt.

Die Konzertreihe »Grundton D« im Deutschlandfunk stellte uns ein Deutschland der besten Tonlagen vor.

Erinnern Sie sich des schreienden Tones auf dem Kasernenhof, des schneidigen Tones des Schuldirektors, des warmen und erwärmenden Tones des Vaters, wenn Sie beim Klettern vom Baum gefallen waren? Der trost-streichelnden Stimme der Mutter, da Sie mit aufgeschlagenem Knie bitterlich weinend angerannt gekommen waren?

»Bis du heiratest, ist alles vorbei …« Aber Ehe ist auf Dauer auch ein Unterfangen, das an falschen wieder und wieder falsch verstandenen Tönen scheitern kann. Nicht nur im Roman.

Der Ton macht die Musik. Das wahre WAS braucht das wahre WIE. So kann der Ton schneidend und säuselnd, herrisch und hart, kalt und scharf, warm und herzlich, unerbittlich und unversöhnlich, rechthaberisch und unbarmherzig, liebevoll und zart, versöhnlich und klar, gewaltig und befehlend, verständnisvoll oder unterstellend, verletzend oder mitfühlend, übelgesonnen oder wohlgesinnt sein.

Wie oft entspricht der Ton nicht dem Inhalt, die Sache nicht der Form! Die Möglichkeiten, uns misszuverstehen oder Misstöne herauszuhören, sind offenbar schier unbegrenzt.

Wie lösend und wie erlösend kann es sein, wenn wir den richtigen Ton gefunden und die anderen es auch richtig hatten hören können.

Es ist jedenfalls gut, wenn ich mich entkrampft bemühe zu sagen, was ich meine, und zu meinen, was ich sage. Nichts dahinter als ich, der ich wiedererkennbar dahinterstehe. Und der ich auch zur Kenntnis nehmen muss, dass ich mich im Ton vergreife, dass das, was ich meine, anders ankommt, als ich es gemeint habe, und manche dahinter etwas vermuten, was nicht dahinter ist. Besonders solche, bei denen nie irgendwas »dahinter« ist. (Dummheit kann so unempfindlich wie überempfindlich sein. Aber nie weiß sie, wie dumm sie ist.)

Wir sind von Hobbypsychologen umstellt, vom Klatschen und Tratschen umgeben, es wird versalzen, vergällt und hintertrieben. Und angesichts dessen ist es so wunderbar, so unglaublich schön, den richtigen Ton zu finden und auf ein Ohr zu treffen, das das auch so zu hören fähig und willens ist. Sich verstehen oder wieder verstehen, ist geradezu erlösend. Dazu gehört es freilich, dass wir uns entschuldigen, wo es schief geht, und dass wir um Verzeihung bitten und verzeihen.

Einfühlsam füreinander, klar in der Sache, schön in der Form, geschmeidig im Ton – so finden wir auch in der Sache besser zusammen. Mal lauter, mal etwas leiser, aber nie zu laut oder zu leise.

ND-Foto: Wolfgang Frotscher

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