nd-aktuell.de / 19.07.2010 / Kultur / Seite 16

Gang über Grenzen

Preis für Gauß

Er ist ein Grenz-Gänger. Mit den Augen, den Füßen, den Händen. Ist es im Kopf und im Bauch, den zwei Körperteilen, die das Herz so verbindet, dass ein Gemüt entsteht. Karl Markus Gauß (Foto: Archiv) blickt unter leidenschaftlichem Zwang zu den verlorenen, vergessenen, verdrängten Menschen, ja Völkern. Er geht dorthin, wo Europa Wurzeln hat, auf welche die Modernisierung schwer und rücksichtslos ihren Planiergier setzt. Er rührt die Hand für dies andere, gefährdete Europa, indem er Bücher schreibt: »Hundeesser von Svinia«, »Die sterbenden Europäer«, »Die versprengten Deutschen«. Ob im Osten der Slowakei oder in Mazedonien, ob bei Roma oder sephardischen Juden – Gauß geht über die Grenzen des landläufig Sichtbaren, seine Land-Läufigkeit ist die des Entdeckers, des Forschers in den Grauzonen, die kaum jemand in Sicht und Wort nimmt, der das neue große Europa beschwört.

Ein Grenz-Gänger auch in anderem Sinne. Er erstattet nicht Bericht, er kommentiert nicht, er – erzählt. Und wer erzählt, ist Dichter, auch wenn er Reportagen schreibt. Ist Poet, auch wenn er uns Wirklichkeit ausbreitet. Ist Erfinder mitten im Realen. Erfinder von Aura, die dem Wirklichen eine Größe gibt, zu der es sich nicht traute oder die man ihm wegnahm. Der Grenz-Gänger als grenzüberschreitender Schreiber: Essay und Roman, Report und Reiseliteratur erheben Gauß' Bücher zu besonderen Stücken deutschsprachiger Journal-Prosa.

Der 1954 in Salzburg Geborene, Herausgeber der Zeitschrift »Literatur und Kritik«, gehört auch zu den exzellenten Tagebuch-Autoren. Allein die beiden Bände »Mit mir, ohne mich« und »Zu früh, zu spät« sind erregende, witzige, bissige, bittere Logbücher durch jeweils zwölf bzw. vierzehn Monatsstrecken – Panetenbetrachtungen aus dem Wohnungsfenster, Heim-Suchungen im Weltgeschehen. Das Tagebuch als Seismograph; im Bierkrug zittern gleichsam die Kriegsgeräusche von sehr weit nach, und die scheinbare Bedeutung so angeblich großer Ereignisse aus Politik und Kultur zerschellt am klugen Eigensinn Gauß'scher Einwürfe. Er betrachtet Literatur und Literaten, unterscheidet auf intelligent polemische Weise Kunst und Kunstbetrieb.

Die Lektüre dieser Journale lässt Vertrautheit aufkommen. Sie rührt wohl vor allem daher, hier einem Autor zu folgen, der sich nicht täuschen lässt von äußeren, äußerlichen Eindrücken. Der aber nicht Lesers Lust tötet, sich von Welt und Wahrnehmungen beeindrucken zu lassen. Plötzlich haben die Grauzonen Farbe. Warn- und Lockfarben gleichermaßen. Wir sagen einfach nur, die Welt sei bunt. Gauß macht daraus anregende Bücher. Nun ist ihm der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay zuerkannt worden; er wird im Oktober in Darmstadt, parallel zum Büchner-Preis, verliehen.

Hans-Dieter Schütt