Erstaunlich sonderbar ...

Eduardo Galeano über die Fußball-WM, das traurige Afrika und ein Schild vor der Haustür

  • Lesedauer: 5 Min.
Nun ist sie bereits eine Woche Vergangenheit – die Fußball-Weltmeisterschaft. Uruguays großer, linkspolitischer Erzähler und Essayist EDUARDO GALEANO, Jahrgang 1940, unbändig in seiner Fußball-Leidenschaft, bilanziert vier Wochen Weltereignis. Der Kommentardienst IPS stellte uns den Beitrag exklusiv zur Verfügung.
Erstaunlich sonderbar ...

Die Welt des Fußballs ist ein Zauberreich, wo alles möglich werden kann, behauptet Pacho Maturana, Kolumbianer, ein Mann, der sich in diesen Dingen gut auskennt. Die abgelaufene Weltmeisterschaft belegt diese Auffassung, denn es ist in der Tat eine sonderbare WM gewesen.

Erstaunlich sonderbar waren die zehn Stadien, wo gespielt wurde – alle wunderschön, riesig und ein Vermögen wert. Man weiß nur nicht, wie Südafrika diese Betongiganten in Betrieb halten wird. Eine Millionen schwere Verschwendung, die zwar leicht zu erklären, aber nur schwer zu rechtfertigen ist, in einer der ungerechtesten Gesellschaften der Welt.

Erstaunlich sonderbar war der Adidas-Ball, ein eingeseiftes, halb verrücktes Leder, das von den Händen glitt und sich den Beinen verweigerte. Der sogenannte Jabulani wurde durchgesetzt, obwohl er den Spielern überhaupt nicht gefallen hat. Aber in ihrem Schloss in Zürich schlagen die Herren des Fußballs niemals etwas vor – sie haben es sich zur Gewohnheit gemacht, einfach zu bestimmen.

Erstaunlich sonderbar war, dass die allmächtige Bürokratie der FIFA nach so vielen Jahren endlich eingesehen hat, dass es notwendig wäre, darüber nachzudenken, wie man den Schiedsrichtern bei entscheidenden Spielabläufen helfen könnte. Es ist nicht viel, aber wenig ist besser als nichts. Es war auch Zeit. Denn diese Schwerhörigen mussten sich die tobenden Klagen anhören, über Fehlentscheidungen, die im letzten Spiel sogar zum Horror wurden. Warum müssen wir vor dem Fernsehschirm ansehen, was die Schiedsrichter nicht gesehen haben oder vielleicht nicht sehen konnten? Unverständlich bleibt dem gesunden Menschenverstand, warum in fast allen Sportarten, Basketball, Tennis, Baseball, ja sogar beim Fechten und bei Autorennen die modernen Technologien normalerweise eingesetzt werden, um eventuelle Zweifel bei den Entscheidungen auszuschließen. Beim Fußball ist das nicht so. Den Schiedsrichtern ist es erlaubt, eine alte Erfindung wie die Uhr zu Rate zu ziehen, um die Dauer des Spiels zu messen – aber damit basta. Nur keinen Schritt weiter.

Erstaunlich sonderbar war, dass die meisten afrikanischen Teams zwar ihre Beweglichkeit erhalten konnten, aber ihre Unbekümmertheit und Fantasie verloren haben. Sie sind viel gelaufen, haben aber wenig getanzt. Es gibt Kritiker, die meinen, dass die Trainer der Auswahlmannschaften, fast alles Europäer, zu dieser Abkühlung beigetragen haben. Wenn das wahr wäre, dann haben sie dem Fußballspiel, das so viel Freude versprochen hatte, keinen guten Dienst erwiesen. Afrika hat seine Tugenden im Namen der Effizienz geopfert, aber die Effizienz glänzte durch Abwesenheit.

Erstaunlich sonderbar war, dass zwar einige afrikanische Spieler ihre Klasse zeigen konnten, allerdings geschah das eher in europäischen Mannschaften. Als Ghana gegen Deutschland gespielt hat, standen sich zwei schwarze Brüder gegenüber, das Geschwisterpaar Boateng: Einer spielte im Ghanadress, der andere trug Deutschlands Farben. Von allen Spielern der Ghana-Auswahl spielte kein Einziger in der nationalen Liga von Ghana. Von den Spielern in der Deutschlandauswahl spielten alle in der nationalen Bundesliga. So wie es Lateinamerika tut, exportiert auch Afrika Arbeits- wie auch Spielkräfte.

Erstaunlich sonderbar war die beste Torabwehr der Meisterschaft. Es war keine Leistung eines Torwarts, sondern eines Torjägers. Luis Suárez wehrte mit beiden Händen auf der Torlinie einen Ball ab, der für seine Mannschaft das Aus in der WM bedeutet hätte. Wegen seiner verrückt-patriotischen Leistung wurde er ausgeschlossen, aber nicht Uruguay.

Erstaunlich sonderbar war die Reise Uruguays, von ganz unten bis ganz oben. Unser Land, das als Letztplatziertes in die WM Eingang gefunden hatte, ganz knapp nach einer schweren Klassifikation, hat würdevoll gekämpft, ohne sich jemals geschlagen zu geben und ist schließlich zu einer der besten Mannschaften geworden. Einige Kardiologen hatten uns alle im Land über die Medien gewarnt, dass »ein Übermaß an Glückseligkeit gefährlich für die Gesundheit sein kann«. Zahlreiche Uruguayer und Uruguayerinnen, die eher befürchtet hatten vor lauter Langeweile zu sterben, sind das Risiko freudig eingegangen, und wir haben die Straßen trotz der winterlichen Temperaturen mit Feiern belebt. Letztendlich ist das Recht, die eigenen Leistungen zu feiern, der Schadenfreude vorzuziehen, die einige Leute angesichts des Unglücks anderer empfinden.

Erstaunlich sonderbar war, dass am Ende des Turniers Gerechtigkeit geschah. Das ist im höchsten Maße ungewöhnlich, sowohl im Fußball wie im Leben überhaupt. Spanien eroberte, zum ersten Mal, die Weltmeisterschaft im Fußball. Fast ein Jahrhundert wurde darauf gewartet. Die Auswahl gewann mit Recht, es war die beste Mannschaft der Meisterschaft, dank des solidarischen Fußballs, den sie verkörpert – einer für alle und alle für einen – und auch dank der besonderen Fähigkeiten des kleinen Zauberers namens Andrés Iniesta.

Als die Weltmeisterschaft begann, hatte ich an meiner Haustüre ein Schild aufgehängt: Geschlossen wegen Fußball. Als ich es nun nach einem Monat abgehängt habe, stellte ich fest, dass ich 64 Spiele mitgespielt habe, Bier in der Hand und ohne mich dabei aus meinem Lieblingssessel zu bewegen. Diese Leistung hat an mir gezehrt, die Muskeln schmerzen, die Stimmbänder sind ramponiert … trotzdem fühle ich eine gewisse Nostalgie. Ich fange an die unerträgliche Litanei der Vuvuzelas, die kardiologisch ungesunde Emotion der Tore, die Pracht der in Zeitlupe nachgespielten Spielzüge, die Feiern – und die Trauer zu vermissen.

Denn manchmal ist der Fußball eine Freude, die schmerzt. Die Musik, die solche Siege begleitet, die Tote zum Tanzen bringen können, klingt stets ganz nah an der tosenden Stille eines leeren Stadions, mitten in der Nacht, wo noch ein Besiegter hockt, Menschenseelen allein, unfähig sich zu erheben, mitten in den riesigen leeren Rängen.

Ich bin ein Mensch, der hofft. Aber ich glaube nicht an eine Hoffnung, die man unangetastet durchhalten kann. Alles existiert nur, weil es widersprüchlich bleibt.

So paradox es klingt: Zweifel ist sogar gut. Er schützt vor Leichtgläubigkeit. Meine einzige Gewissheit ist die Gewissheit der Zweifel, die mich jeden Morgen, von der ersten wachen Stunde an, bedrängen. Die Zweifel sind das wichtigste Instrument – gegen die Routine eines Denkens, das glaubt, nur linear vorgehen zu können.

Ich bin nicht mehr als ein Bettler um guten Fußball. So gehe ich durch die Welt, den Hut in der Hand, und in den Stadien bitte ich: Nur einen schönen Spielzug, Gott vergelt’s.

Aus einem ND-Interview mit E. Galeano, 8. November 2003

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