Der Farbfilm wurde nicht vergessen

Vor 100 Jahren wurde die Filmfabrik Wolfen eröffnet – als Großbetrieb gibt es sie nicht mehr

  • Hendrik Lasch, Wolfen
  • Lesedauer: 3 Min.
Am 17. Juli 1910 begann die Produktion in der Filmfabrik Wolfen (Sachsen-Anhalt), wo später der Farbfilm erfunden wurde. Ein Buch und eine Ausstellung erinnern an das Jubiläum.

Nina Hagen klang ehrlich erbost: Urlaubszeit, Sonnenschein – doch ein gewisser Micha hat den Farbfilm vergessen. Was jedoch ist der schönste Strandbesuch wert, wenn er nicht für alle Freunde sowie die Ewigkeit auf Papier gebannt wird, und zwar, bitteschön, in Color?

Dass zahllose Familienfeiern mit Fotos reinweißer Strände, sattgrüner Gebirgswälder und rosiger Babywangen bereichert wurden, ist nicht zuletzt den Fotochemikern in Wolfen zu danken. In einer Fabrik, die heute vor 100 Jahren ihre Produktion aufnahm, wurde 1936 der Farbfilm erfunden. Zunächst revolutionierte dieser das Kino: 1941 kam der erste auf Wolfener Farbfilm gedrehte Streifen auf die Leinwand: »Frauen sind die besseren Diplomaten« mit Marika Rökk.

Festakt mit Böhmer

Dass Frauen im Filmtitel die tragende Rolle spielten, ist ein schöner Zufall; in der Wolfener Filmfabrik kam ihnen immerhin auch eine wichtige Rolle zu. Schon in Zeiten, da noch das Agfa-Logo am Tor prangte, wurde etwa ein Wöchnerinnen-Heim eingerichtet, eine von vielen Sozialleistungen neben Ferienheimen und Werkssiedlungen. In der DDR war der Betrieb, der zugleich Herzstück des Fotochemischen Kombinats war, der größte Frauenbetrieb: Sie stellten 8000 der bis zu 14 500 Beschäftigten.

Auch daran wird erinnert werden, wenn das Gründungsjubiläum heute mit einer Festveranstaltung gefeiert wird, zu der Ministerpräsident Wolfgang Böhmer sprechen wird. Sie findet statt im markanten runden Verwaltungsgebäude der Fabrik, das heute das Rathaus der Doppelstadt Bitterfeld-Wolfen beherbergt. Quasi als Geschenk zum 100-jährigen Jubiläum wird ein historischer Hörsaal frisch restauriert übergeben und getauft.

Zum Lenken einer Filmfabrik wird der Bau freilich nicht mehr benötigt: Der Großbetrieb überlebte das Ende der DDR nur um wenige Jahre. Allerdings wurden etliche Firmen etwa für Spezialchemie ausgegründet. »Flaggschiff« und Namensnachfolger der Filmfabrik, die nach Namensstreitigkeiten mit Agfa ab den 60er Jahren unter der Marke »ORWO« (für »Original Wolfen«) produzierte, ist der Fotodienstleister ORWO Net, bundesweit der drittgrößte Entwickler von Digitalbildern. Das Unternehmen hat 250 Mitarbeiter, setzt 30 Millionen Euro um und hat, zur Genugtuung vieler ehemaliger Mitarbeiter der Filmfabrik, Ende 2009 das Fotogeschäft des Versandhändlers Quelle übernommen.

Die Tradition lebt fort

Für Arbeit sorgt in Zeiten, da die Strandurlauber ihre bunten Bilder bei Familienfeier immer öfter mit dem Beamer an die Wand werfen, in der Region eher die Solarbranche. Auch sie profitiert freilich von der industriellen Tradition, wie sie die Filmfabrik verkörpert. Deren Belegschaft, sagen Kenner, war nicht nur hoch qualifiziert, was für einen gewissen »Mitarbeiterstolz« sorgte. Sie waren auch seit Generationen an die Arbeit in rollender Woche an komplizierten Anlagen gewöhnt – Abläufe, wie sie auch in den Solarfabriken zu finden sind.

Die Geschichte der Filmfabrik und ihre Rolle beim Kolorieren der auf Papier gebannten (Urlaubs-) Erinnerungen wird inzwischen in einem Museum dargestellt, das am 22. Juli eine Sonderausstellung anlässlich des 100-Jährigen eröffnet. Dort kann auch besichtigt werden, wie die Filmstreifen in der Produktion beschichtet wurden. Für vertiefende Lektüre bietet sich ein vom Berliner Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch verfasstes Buch zur »Agfa-ORWO-Story« an, das zum Jubiläum erschien. Es enthält 80 Bilder – meist natürlich in Farbe.

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