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Im Dienste der Stauffenbergpartei

Das Tagebuch des Jeremy-Maria zu Hohenlohen-Puntiz – 4. Folge

  • Lesedauer: 3 Min.

Eine märchenhafte Theorie der Physik besagt: Stünde an einem entlegenen, Lichtjahre entfernten Punkt des Universums ein Spiegel und richtete man diesen auf die Erde, so würde auf ihm das Abbild unseres Planeten erscheinen, wie er vor tausend, zehntausend Jahren, ja, vielleicht zum Zeitpunkt seiner Geburt ausgesehen haben mochte.

An einen solchen kosmischen Spiegel erinnern mich jetzt Leonores Augen. Mein schreckliches Vergehen, sie in der Hitze ihrem Schicksal überlassen zu haben, hatte sie beinahe in einen jenseitigen Zustand versetzt. Noch immer scheint sie sich nicht davon erholt zu haben. Während ich nun vor ihrem Käfig Nachtwache halte, ist mir, als spiegelte sich in ihrem Augenlicht ein ganzes Kakaduleben, das eng mit dem Schicksal meiner Familie verbunden ist.

Ich sehe ein ungetauftes Kücken auf der Hand von Urgroßpapa Giselher liegen. Urgroßpapa Giselher ist Gesandter des Deutschen Reiches in Tokio. Ein Bass ertönt, verkündet liebevoll: »Leonore sollst du heißen«. Rot glüht die ewige Sonne Japans.

Wenige Jahre später, östlich der Oder, eine Kakadujugend im Zeichen der Dekadenz. Exotische Früchte, Charlestonklänge aus dem Grammofon, Großvater Basius' Jugendzimmer, Leonores Voliere, das einem Tempel der Sünde gleicht, während in der Welt außerhalb ein Gespenst namens Weltwirtschaftskrise Millionen in die Fänge des Bolschewismus treibt.

Jahre der Klarheit. Deutschland erwacht, wird von der Zinsknechtschaft erlöst. Die zu Hohenlohen-Puntiz sind begeisterte Anhänger der neuen Zeit. Doch Urgroßpapa Giselher mahnt auf dem Sterbebett, ein Gefreiter sei kein General, den Pour le Mérite vermacht er seinem Vögelchen, nicht dem Sohn. Der zieht im Stahlgewitter gen Wolga, schließt sich Verschwörern an, als es längst zu spät ist.

Stunde Null. Papa wird geboren. Leonore tut sich schwer mit dem Familienzuwachs, ein Esser mehr. Pommernland ist abgebrannt und der neue Hof im niedersächsischen misst gerade 200 Hektar. In einem unbeobachteten Moment fällt sie den Säugling an. Freunde werden Vogel und Knabe erst in den Wirtschaftswunderjahren.

Inzwischen haben Chaoten die sexuelle Befreiung, aber auch Gewalt und Terror gebracht. Papa steht auf Todeslisten. Einmal bekommt Leonore vergiftetes Futter, ab dann ist der Personenschutz auch für sie zuständig.

Ein klarer Septembertag 2009. Vater und Sohn auf der Jagd, mit von der Partie, Leonore. Gerade hatte der Sohn vom Bierdeckelstaat gehört, ein genial-radikales Konzept, verfasst vom Vater und einem ehemaligen Oppositionsführer, der zugleich Patenonkel des Sohnes ist, da entdecken sie ein schlafendes Häschen in seiner Sasse. Der Vater lässt dem an Erfahrung ärmeren Nachwuchs den Vortritt, der zielt, schießt...

Seit fünfundneunzig Jahren flattert, krakeelt, krächzt und schnäbelt Leonore auf dieser Erde, sie hat Reiche untergehen sehen, den Tod gestandener Männer ertragen müssen, wird sie das goldene Zeitalter der Vernunft erleben? Nie werde ich mir verzeihen, was ich Leonore angetan habe. Jetzt schließt sie die Augen. »Gisch, Gisch«, das Seufzen der Kakadus.

Leonore, Dir allein schwöre ich: Die konservative Revolution wird kommen. Ich will mich mit Kalle und Ursel versöhnen. Der Pöbel liebt Kalle, nicht auszumalen, was wäre, wenn er der Bewegung verloren ginge. Es wird neue Aktionen geben. Schließlich muss die Saat der Verwirrung im Volke aufgehen. Auf dass das Land sich vom Joch des korrupten Kuschelstaates befreit. Aber bis dahin liegt ein weiter Weg. Ich will Onkel Friedrich um Rat bitten, seit Langem schon habe ich ihm nicht geschrieben.

Der satirische Tagebuchroman erscheint jeweils in der Mittwochausgabe des ND. Die nächste Folge erwarten wir am 28. Juli 2010.

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