nd-aktuell.de / 29.07.2010 / Kultur / Seite 15

Tenors Timing

Peter Schreier 75

Fürs klassische Lied braucht man als Hörer vielleicht eine gewisse Sammlung Lebenszeit, um es zu genießen. Möglicherweise, weil es Zeit bedarf, um dem Romantiker im eigenen Gemüt ohne Arg und ohne kritische Hintergedanken gebührenden Raum zu lassen. Lied ist Kunst – in Hautnähe zur Künstlichkeit. Aber: diese Abgehobenheit als Tugend, als Maß, als edle Bemächtigungsgebärde wider die Welt, die nicht gesangvoll, sondern nur geräuschvoll ist.

Peter Schreier (Foto: dpa) freilich sang so, als ob es diese Abgehobenheit nicht gäbe. Leicht, ohne explizite Anrufung des Höheren, ohne implizite Beschwörung des Tempeltons. Dieser lyrische Tenor sang natürlich, dies entsprach, wie es der Musikwissenschaftler Jürgen Kesting formulierte, »einer Forderung der frühromantischen Ästhetik: Kunst als absichtslose Natur erscheinen zu lassen«. Und der Gesang erzählte sehr unumwunden selbstverständlich vom Gleichgewicht zwischen Religion und Emanzipation, als könne da einer die Wunder Bachs (Schreier sang oft dessen Evangelisten der »Matthäus-Passion«) in alle kommenden Zeiten hinein verlängern. Als könne er wenigstens ein Lied davon singen.

Besagte Natürlichkeit, ja Unangestrengtheit noch im aufwühlend Tragischen hat diesen Sänger nie zu wahrhafter Hochdramatik in der Oper geführt. Sein Feld war nicht der Zusammenprall, er blieb in schönstem Sinne weich, poetisch. Virtuos. Er sang Wagner, Beethoven, Schumann, den gesamten Schubert. Du hörst, und Lebensangst ist gedämpft, ohne die Todesangst zu verleugnen.

Schreier, 1935 in Meißen geboren, Sohn eines Lehrers und Kantors, kam zehnjährig zum Dresdner Kreuzchor – dessen Leiter Rudolf Mauersberger ihm solistische Altpartien anvertraute. Nach seinem Gesangsstudium gehörte Schreier Jahrzehnte lang dem Ensemble der Staatsoper in Berlin an. Ein Triumphator, weltweit, mit Mozart, in späteren Jahren auch Chor- und Orchesterdirigent (Karajan zeigte sich beeindruckt, »lieh« ihm konzertweise seine Berliner Philharmoniker).

Musik dringt anders in uns ein als Sprache. Unmittelbarer, vernunftfreier. Sprache bleibt jenseits allen Ausdrucks doch: Mitteilung. Musik teilt nicht mit. Mit Musik teilen wir eine Empfindungsvollkommenheit, die nirgends sonst möglich ist. Musik überwältigt wirklich, und Hörers Sieg ist die beglückende Kapitulation. Wenn eine Musik endet, erleben wir, wie es Martin Walser sagt: »Armut«.

Peter Schreier sang sich ins Bleibende, und wenn Musik die einzige große Freiheit außerhalb der Gedanken ist, dann ist dieser Sänger gleichsam ein Freiheits-Held. Nicht Heldentenor. Mehr. Ein Bote des schöngemachten Schmerzes. Arbeiter im Bergungsdienst für ausgesetzte Seelen.

Stets wurde seine Stimme ob ihrer Alterslosigkeit gerühmt. Aber er hat sich nicht verführen lassen, den Zeitpunkt seines Bühnenabschieds auch nur um die entscheidende Sekunde zu spät zu setzen. Tenors Timing bis zur letzten Tonsetzung, mit siebzig. Meisterlich. Heute wird Peter Schreier fünfundsiebzig, ihm sei herzlich gratuliert. Hans-Dieter Schütt