Zukünftige Erinnerung

Die Sommerkunstschau Rohkunstbau im Schloss Marquardt widmet sich zum zweiten Mal dem Atlantis-Mythos

  • Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Liebhaber der Sommerkunstausflüge konnten schon im vergangenen Jahr zum Schloss Marquardt nordwestlich von Potsdam reisen und sich vor oder nach der Kunstbetrachtung im weitläufigen Leneépark nebst Wasserblick ergehen. Auch in diesem Sommer ist dieses Schloss Domizil für Rohkunstbau. Bereits zum 17. Mal lädt der Augenarzt und Veranstaltungsinitiator Arvid Boellert sowie sein Kurator Mark Gisbourne zur über Berlin und Brandenburg hinaus bekannten, in Europa geachteten Ausstellung, zur Kunst und auf die Wiesen.

Zweimal Atlantis, zwei Texte, zwei Ausstellungskonzepte: 2009, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, war der Text von Aristoteles und die Orientierung auf Osteuropa Gegenstand bzw. Anliegen der Kunstschau. In diesem Sommer stand Platons Kritias im Zentrum des Atlantis-Mythos und damit eine Schrift, die nicht das Ideal einer egalitären Gesellschaft, sondern das Bild eines ebenso tugendhaften wie ästhetisch verfeinerten, streng hierarchisch strukturierten Idealinselstaates suggeriert.

Der aus London stammende und in Kreuzberg lebende Kunsthistoriker Mark Gisbourne hatte diesmal etliche Künstler der Themsemetropole geladen, die sich mit der räumlichen Situation des Schlosses, mit der bedrohliche Schönheit des Untergangs-Mythos, vor allem aber mit der Frage auseinandergesetzt haben, wie etwa ließe sich eine zukünftige Vergangenheit – etwa unsere mediale Gegenwart als Zukunft visuell vorwegnehmen. Die Verschränkung der Zeitebenen, das Vexierspiel mit den Perspektiven eröffnet nicht nur künstlerischem Schaffen weite Denkräume und Experimentierfelder zum Einkreisen einer Wahrhaftigkeit, aber, wie der Kurator konstatiert, es ist von jeher im Besonderen der Kunst vorbehalten in ganz eigener Weise und in Kongruenz zur Wissenschaft vor- und zurückzuschauen und Mythen weiterzuerzählen.

Und dann geht es auch schon los mit spannungsreichen Kommentaren und Interpretationen der zehn Künstler. Im Atrium hat Johanna Smiatek einen achteckigen Pavillon als ein Selbstbespiegelungskabinett aufgestellt. In jenem Moment, indem man eintritt und seiner selbst gewahr wird, erlöscht das vielfache Spiegelbild und ferne Landschaften leuchten auf. Mittels Sensortechnik, Spiegel – und Spuk wird statt (Europa-)Narzissmus Weitblick eingefordert.

Ori Gersht (geboren in Israel, lebt in London) berührt mit einem Epos »Evaders« aus parallel laufenden Videosequenzen. Der »Engel der Geschichte« in Gestalt eines vom Gehen, vom Fortgehenmüssen ausgezehrten Mannes begegnet einem auf dem landschaftsschönen wie historisch so schicksalsbeladenen Pyrenäenpfad von Spanien nach Frankreich. Es ist der Fluchtweg – nicht nur, aber auch – Walter Benjamins, der sich, wie bis heute vermutet wird, am Ende des aussichtslos erscheinenden Ganges in den Selbstmord gestürzt hat. Die Sequenzen laufen mit- und gegeneinander, die Tempi verschieden, Porträt und Landschaft im Widerstreit. Dafür entwickelt Gershit eine Bildintensität, die einen an Caspar David Friedrich denken lässt – Berge, Wolken, der in der übermächtigen Natur einsame Mensch. – Müsste doch nie einer solch Weg gegangen sein!

Lapidar malt Wilhelm Sasnal, ein junger Maler aus Krakow, seine Alltagsimpressionen. Zwei Tafelbilder »Abar« und »Food«, die so unschlossig, so tadellos unadelig, dafür analytisch gemalt wurden und zur Erdung beim Spaziergang durch das Gesamtkunstwerk einladen. So wird man sich auch erinnern: einfach an Dinge, die da waren – aber wie waren sie da?

Ebenso nüchtern und herrlich ironisch aus Berlin ist die Videoinstallation »ten« von Niklas Goldbach, die in einem Hotel am Potsdamer Platz gedreht wurde. Schwarz-weiß der Dresscode. Weiß und Schwarz dann auch das Interieur einer Suite. Der Raum erlesen minimalistisch. Die Bewegungen der Protagonisten ebenso. Aber wer sind sie? Es ist doch der Künstler selbst und dann gleich zehnfach? Er hat seine Bilder sequentiert und sich per Bildbearbeitungsprogramm zehnfach geklont. Da schreiten, sitzen, begegnen sich stumm zehn, ja, Könige, wie sie in Platons Atlantissaga als eine ästhetisch-elitäre Oberschicht vorkommen.

Es verwundert nicht, dass es ausgerechnet zwei renommierte Briten sind, die auf besonders subtile ästhetische Weise den Betrachter des Staunens überführen, um ihn dann nur Schreckliches gewahr werden zu lassen: eines sagenhaften Rittergemetzels in schneeweißen, märchenhaft zarten Schaukästen bei Cathy de Monchaux. Oder tiefes Todesahnen mit aufscheinendem Fisch und Meerestier bei Mat Collishaw.

Arvid Boellert erklärt zum Rohkunstbau-Credo, es ginge bei der Auswahl der Ausstellungsorte nicht um eine Immobilienentwicklung per Kunst, wie man es angesichts des Publikums hin und wieder denken musste, auch nicht um die Selbstpräsentation arrivierter Kunstliebhaber, sondern darum, dass ebenso geschichtsträchtige wie charmant-morbide Orte Künstler zu raumbezogenen Arbeiten animieren. Nach der Mühsal des alljährlichen Domizilfindens für Rohkunstbau, eine Kunstinitiative, die allerdings von vornherein auf Herrensitze spezialisiert ist, aber um jeden Fördereuro kämpfen muss (keine Industriesponsoren), ist es offenbar für die Kunst förderlich, im Haveldorf Marquardt ein spurenreiches, wilhelminisches Schlösschen mit diversen Kabinetten bespielen zu dürfen.

XVII. Rohkunstbau, »Atlantis II«, bis 2. September, Schloss Marquardt/Potsdam, Fr 14-19, Sa-So 12-19 Uhr.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal