Die Peiniger und die Gepeinigten

Dr. Said Essaid, ein 1937 in Jaffa geborener Palästinenser. 1948 musste er mit seiner Familie aus seiner Heimat fliehen und lebt seit 1960 in Deutschland.

Semiten sind die Völker, die um 3000 v. Z. wahrscheinlich von der Arabischen Halbinsel nach Mesopotamien, Syrien, Palästina und vor zirka 700 v. Z. von Südarabien nach dem gegenüberliegenden afrikanischen Festland vorgedrungen sind. Sie sind keine Rasse, sondern eine Sprachgemeinschaft. Diese besteht in der Hauptsache aus Armeniden und Orientaliden, zu denen auch indoeuropäische Völker gehören. Semiten sind laut einer Reihe von Historikern Araber und die von ihnen abgezweigten Äthiopier, Akkader (Assyrer und Babylonier), Kanaaniten und Aramäer. Zu einer späteren Zeit gehörten die Juden dazu. Der Migrationshistoriker Prof. K. Salibi bezeichnete die Juden als Araber, die sich als erste in der Region die monotheistische Religion aneigneten und Juden genannt wurden. Allein daraus ist ersichtlich, wie unsachlich heute mit der Bezeichnung »Semitismus« umgegangen wird. Im Abendland spricht man von Semiten und meint ausschließlich die Juden. Die Juden als Monotheisten lehnten es strikt ab, sich Herrschern zu unterwerfen. Dies führte zu einer anhaltenden Polarisation. Später, als das Christentum an Raum gewann, wurde gefragt: Wer hat Christus betrogen? Worauf die Christen die Antwort parat hatten: Judas. Die Herrschenden betrachteten die Juden mit Argwohn. Die Kirche trug zu ihrer Ausgrenzung bei. Juden durften keine Ämter bekleiden, keine Berufe ausüben. Pogrome wurde zum Alltag. Der Ausdruck »Semitismus« bzw. »Anti-Semitismus« wurde von dem deutschen Agitator Wilhelm Marr 1879 geprägt. Judentum bezeichnete für die Christen Europas nicht nur eine Religion, sondern eine Rasse. Als Reaktion auf Judenverfolgung und rassistischen Anti-Judaismus.entstand eine organisierte politische Bewegung, der Zionismus. Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, sah die europäische Judenfeindschaft als unabänderliches Phänomen. Entsprechend dieser Grundidee vom ewigen Judenhass leugnete der Zionismus prinzipiell die Möglichkeit der jüdischen Gleichstellung in der Diaspora. Als Konsequenz daraus propagierte Herzl die Errichtung eines jüdischen Nationalstaats. Die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und historischen Ursachen der Judenfeindschaft wurden von der zionistischen Bewegung jedoch vollkommen ignoriert. Das Anti-Judaismus ist nämlich kein Naturgesetz, sondern Resultat konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse. Sowohl während der Zeit des Feudalismus und der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft war er vor allem Resultat der besonderen Wirtschaftsfunktion der Juden. Dieser Sonderstellung bedienten sich die herrschenden Kräfte in Zeiten der Krise. Sie lenkten Hass und Unzufriedenheit der Massen gegen die Juden. Dieses gesteuerte Anti-Judaismus wurde zum systemstabilisierenden Herrschaftmittel. Nach dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 sah Großbritannien keine andere Möglichkeit, um seine Position zu sichern, als die Gründung eines Staates mit europäischen Einwanderern. Mit der Balfour Declaration 1917 versprach England den Zionisten ein Heimatland in Palästina, wohlwissend, dass Palästina schon seit über einem Jahrtausend zu einem arabischen Land geworden ist. Wohlwissend, dass die Palästinenser sich als Nachfahren der arabischen Kanaaniter und Philister verstehen, die dem Land seinen Namen Palästina gaben. In Miss- achtung der Realität propagierten die Zionisten den Slogan, dass Palästina »ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land« sei. In Wahrheit lebten jedoch bereits 1917 über 600000 palästinensiche Araber dort. Der Streit zwischen Arabern und Juden bezüglich der historischen Rechte auf Palästina sollte jedoch nicht überbewertet werden. Entscheidend ist, dass Palästina zu Beginn der zionistischen Kolonisierung keine menschenleere Wüste war. Die Missachtung der palästinensich-arabischen Wirklichkeit musste zwangsläufig zum Konflikt mit den Palästinensern führen. Hauptziel des Zionismus war die Gründung eines reinen Judenstaates. Erreicht werden sollte dieses Ziel mittels einer unter strategischen Gesichtspunkten durchgeführten jüdischen Kolonisierung. Opfer dieser Eroberungsstrategie wurde das palästinensische Volk. Es wurde diskriminiert und verdrängt. Die überwiegende Mehrheit der jüdischen Kolonisten lehnte jegliche echte Verständigung ab. Bereits 1895 vermerkte Herzl in seinem Tagebuch: »Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in Durchgangsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen jederlei Arbeit verweigern.« Nach dem Zweiten Weltkrieg und den bestialischen Massakern an den Juden Europas nutzten die Zionisten mit den Kolonialmächten des Westens die Situation. Der Staat Israel wurde am 15. Mai 1948 kreiert. Endlich wurde der strategische Plan des Westens, seine Bastion im Nahen Osten zu bekommen, Wirklichkeit. Dafür mussten rund 900000 Palästinenser ihr Land verlassen. Ausgelöst wurde die Vertreibung durch das Massaker von Deir Yassin, bei dem 254 palästinensische Männer, Frauen und Kinder umgebracht wurden. Das Blutbad erzielte die beabsichtigte Wirkung. Menachem Begin, damaliger Chef der Organisation Irgun, rechtfertigte das Massaker: Ohne diesen »Sieg« hätte es kein Israel gegeben hätte. Die Panik unter den Palästinensern wurde durch militärische Angriffe zusätzlich geschürt. Waffengewalt bestimmte somit die zionistische Vertreibungspolitik. Die Legende von der angeblich freiwilligen Flucht der Palästinenser entbehrt jeglicher Grundlage. Der Judenstaat enstand auf Kosten des palästinensichen Volkes. Ungeachtet dessen haben die Palästinenser ihre Sache ungebrochen weiter vertreten und ihren Widerstand nach 1967 so verstärkt, dass der verstorbene israelische General Moshe Dayan sagte: »Alle unsere Siedlungen sind auf den Trümmern arabischer Dörfer erbaut, und wir reißen nicht nur ihre Mauern nieder, sondern versuchen auch, ihre Namen aus den Geschichtsbüchern auszuradieren. Sie (die Palästinenser) haben also sehr gute Gründe, gegen uns zu kämpfen. Wenn ich ein Araber wäre, wäre ich wohl ein Kämpfer für Al Fatah.« Der einzige Schlüssel zur Lösung der Problematik kann nur der Frieden sein. Aber die Mentoren (heute die USA) Israels können meines Erachtens keinen Frieden bewerkstelligen. Ein »adminstrierter« Friede à la USA dient ausschließlich deren Interessen. Doch Frieden ist die einzig vernünftige Option für beide Völker. Es gibt keine Alternative. Hierzu müssen aber die Rahmenbedingungen geschaffen werden, und Israel als die größte Macht in Nahost trägt auch die größte Verantwortung dafür. Der Peiniger ist am Zuge. Die Gepeinigten, die Palästinenser, haben vom Frieden mehr zu gewinnen, demnach kann an deren Absichten kaum gezweifelt werden. Sie haben bereits mehrfach für die Schaffung solcher Rahmenbedingungen gewirkt. Sie haben Israel als Staat anerkannt, diese Anerkennung wurde parlamentarisch ratifiziert. Ohne die Gegenleistung, dass Israel Palästina anerkannte. Zum ersten Mal in der Geschichte der Arabischen Liga, haben alle arabischen Länder einstimmig die Anerkenung Israels ausgesprochen und der Aufnahme normaler Beziehungen zu Israel zugestimmt, wenn dieses die UN-Resolution 224 voll anerkennt und danach handelt. Die Antwort Scharons fiel anders als erhofft aus: Krieg und zwar, wie er es nannte, »totaler Krieg«. Ein israelischer Freund in der Bewegung »Peace now« in Israel sagte mir bei einem Besuch in Berlin: »Ich schäme mich zu sagen, dass wir, die Opfer von gestern, die Täter von heute sind. Wenn die Ermordeten von Ausch- witz, besonders die aktiven Antifaschisten, erfahren, was heute in Palästina geschieht, würden sie sich im Grabe umdrehen.« Manche propagieren, dass das brutale Vorgehen der Israelis antijüdische Gefühle verstärke. Dazu ist festzustellen, dass die faschistischen Elemente und Rassisten Deutschlands wahrscheinlich weiter Faschisten bleiben und möglicherweise Scharon als Bestätigung ihrer »Argumente« dient. Die Antifaschisten bleiben Antifaschisten, und wahrscheinlich kritisieren sie Israels Verhalten. Die Politiker handeln nach festgelegten Strategien und nach ihrer Interessenlage. Der Rest der Bevölkerung dürfte geteilter Meinung bleiben. Jene, die mit Israel sympathisierten, werden eventuell ihre Sympathie dämpfen. Denn die Brutalität Scharons und die Akzeptanz dafür bei der jüdischen Mehrheit in Israel sowie die vulgäre Apologie dieses Kurses bei jüdischen Politbossen hat die öffentliche Meinung doch kritischer gemacht. Um die Kritik zum Schweigen zu bringen, wird nun von jüdischer Seite der Vorwurf des Antisemitismus erhoben. Dass aber der Anti-Judaismus auf Grund der Lage in Nahost zugenomme...

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