nd-aktuell.de / 14.09.2010 / Kultur / Seite 16

Gewalt

Saisonstart am Maxim-Gorki-Theater in Berlin

Gunnar Decker

Immerhin: es blüht. Sogar ganz von allein. Das ist der Trost, der in jeder Brache liegt. Und auch, dass es immer anders kommt, als die Politiker es verheißen – liegt darin nicht eine Hoffnung? Gar nicht mehr hinhören auf all die medial Schleife laufenden Phrasen, das wäre zu lernen aus Kohls Wende-Versprechen von den »Blühenden Landschaften« im Osten. Aber kann man sich diesen ständig Geräusche produzierenden Meinungsmanipulatoren denn entziehen? Man könnte aus Ekel auf Inseln oder tief in den Wald exilieren, man kann aber auch anfangen, anders zu hören, zu sehen.

Das ist, wenn man so will, die allgemeinste Umschreibung des Themas dieser Spielzeit am Berliner Gorki-Theater. Landschaft im Umbruch. Armin Petras: »Die Birken in den Industrieruinen Brandenburgs betreiben aktive Ideologiekritik: Sie holen sich die Reste der ›neuen Welt‹ aus dem Bilderbuch der DDR-Prophetie und setzen gleichzeitig ihren ganz eigenen, originellen Wachstumsbegriff gegen jenen, der vor 20 Jahren die Politik kurzzeitig euphorisierte.«

Zum Eröffnungsfest mit szenischen Miniaturen greift der Terror der Meinungsmache in Gestalt des Seniorenclubs des Theaters nach uns. In jeder Ecke, auf jedem freien Platz steht jemand und hält die euphorischen Reden von gestern noch einmal. Heute sind sie nur noch ärgerliches Geräusch. Das ist die Begleitmusik zu Rolf Dieter Brinkmann, jenem Berserker der westdeutschen Poesie, der nichts mehr glaubte und die schöne heile Wohlstandswelt mit seinen wortreichen Triebentladungen attackierte: »Alles ist besser geworden, man könnte sich umbringen.« Das ist aus »Keiner weiß mehr«, aggressive Szenen einer Ehe, eruptive Entladungen von Selbsthass. Sabine Waibel und Peter Kurth lesen den Text. Sie bewegen sich nicht, dennoch kann man sich dem Exzess nicht entziehen. Ein Faustschlag ins Gesicht und ein Tritt in den Unterleib beendet jede Kommunikation. Man kann doch über alles reden? Ja, bei Brinkmann so lange, bis Blut spritzt und sich Ejakulat mit Kot mischt.

Das ist seine verzweifelte Antwort auf alle Reden von Demokratie, Glück und Vernunft – für ihn bloße Lüge, zusammengekehrt aus menschlichem Schmutz, der bleibt. Ja, für Brinkmann scheint das Obszöne eine (selbstzerstörerische) Zuflucht. Aber das subversive Moment ist aufgesogen worden von Therapiegruppen, Pornoindustrie und Privatfernsehen.

Es ist nicht mehr aufklärerisch, jemandem von seinem Schwanz zu erzählen. Nein, die Verzweiflung ist eine andere geworden, der Brinkmannsche Befreiungsversuch wirkt da wieder wie eine vorsätzliche Selbstgefangensetzung im bloß Triebhaften. Denn gerade das ständige Stimulieren von Affekten ist es ja, was uns in der Mediengesellschaft als geistige Wesen so zu Boden wirft. Petras jedoch spitzt diese Perspektive in seiner eigenen dann folgenden Brinkmann-Bearbeitung »Keiner weiß mehr 2 oder Martin Kippenberger ist nicht tot« weiter zu. Alle Antworten auf Sinnfragen, die bereits gegeben wurden, helfen uns nicht, nur vielleicht solche Fragen, die unsere eigenen sind. Auch das ist wohl eine Utopie, die das Scheitern schon in sich trägt. Ein Paar (Ninja Stangenberg und Matti Krause) auf der vergeblichen Flucht zu sich selbst. Gerade der sexuelle Furor der Brinkmann-Passagen wirkt in der Petras-Adaption jedoch eher komisch: »Leck mich aus, schlupp, schlupp.« Vielleicht sollte man so etwas doch besser nicht geschrieben haben, als Werk der Nachwelt überlassen.

Bevor die Lesung von Wolfgang Hilbigs »Provisorium« kommt, gehe ich, mein Quantum an ertragbarer Hoffnungslosigkeit ist erreicht. Denn im »Provisorum« porträtiert sich der große Dichter Hilbig selbst als apathischer Fremdkörper in westdeutschen Provinzhotelzimmern, saufend und desinteressiert Pornos schauend.

Kann man von hier aus in eine andere – das antiquierte Wort metaphysisch einmal nicht scheuend – Dimension durchstoßen? Ein Name drängt sich dabei für die kommende Spielzeit auf: Kleist, der Jubilar des Jahres. Dessen »Prinz von Homburg« hat Petras bereits auf eindrucksvolle Weise inszeniert, nun folgen »Penthesilea« und »Das Erdbeben in Chili«, sogar ein ganzes »Kleistfestival«. Wie Armin Petras dabei wohl Nähe und Ferne von Kleist zu Brinkmann bestimmen wird?

Nächste Vorstellung: 3. Oktober