nd-aktuell.de / 16.09.2010 / Kultur / Seite 13

Und wir mitten im Stück

Nono in Hannover

Roberto Becker
Wo ist das Publikum? Auf der Bühne. Allein im Zuschauerraum: Sänger Christoph Tonkin
Wo ist das Publikum? Auf der Bühne. Allein im Zuschauerraum: Sänger Christoph Tonkin

Es ist wohl tatsächlich so, dass echte Kunst immer eine politische Komponente hat. Selbst wenn eines ihrer Produkte von demonstrativer Ferne zum Politischen lebt, ist das ein politisches Statement. Den Meisterwerken, die das Repertoire der Opernhäuser beherrschen, lassen sich so immer wieder aus den Erfahrungen der Lebenswirklichkeit neue Aspekte abgewinnen. Hier wachsen dem Regietheater seine Chancen zu. Anderseits hat man es mit den Werken, die ihre Botschaft vor sich hertragen, keineswegs leichter. Was soll man bei Brechts »Mahagonni« enthüllen, wenn die Gaunerei des Geldes gesellschaftfähig ist?

Auch Luigi Nonos Bühnenwerke sind so gesehen ein eher schwer zu packender Fall. Es gilt, politische Botschaft und ästhetische Form in Balance zu halten. Den wenigsten gelingt das. Der Ausweg, den der junge Regisseur Benedikt von Peter jetzt in Hannover mit seiner »Intolleranza«-Inszenierung gesucht hat, delegiert diesen Konflikt kurzerhand an den Zuschauer. Er stellt das Werk nicht auf den Prüfstand seiner Bühnengültigkeit, sondern stößt den Zuschauer mitten hinein.

Es sieht kühn aus, und es macht anfangs durchaus Eindruck, wenn das Publikum auf die Bühne mitten unter die Choristen gelotst wird, sich der Eiserne Vorhang schließt und fortan von einem Grubenunglück und eingeschlossenen Grubenarbeitern die Rede ist. Aber weder die Darsteller noch wir sind wirklich so direkt davon betroffen, wie diese nachempfundene Enge glauben machen will. Wir sollen uns anfassen, an andere Plätze dirigieren lassen und uns auf Decken auf die Erde legen, wenn der hochgehende Vorhang den Blick auf den leeren Zuschauerraum freigibt und die Atomkatastrophe in Hiroshima heraufbeschworen wird.

Die interessante und neue Erfahrung, die man bei dieser Aufhebung der Trennung von Zuschauern und Akteuren gewinnt, ist erstaunlicherweise die Nähe zur Musik Nonos. Das Orchester ist im Unterboden und auf den Galerien untergebracht und Dirigent Stefan Klingele auf den überall verteilten Bildschirmen allgegenwärtig. Er bewältigt die Koordinationsherausforderung genauso exzellent wie die Protagonisten ihren Gesangspart. Ob Mathias Schulz (als Emigrant), Karen Frankenstein (als seine Gefährtin) oder Khatuna Mikaberidze, Christopher Tonkin, Tobias Schabel oder Tatjana Rodenburg – und vor allem der Chor der Staatsoper Hannover, sie alle sorgen für musikalische Akkuratesse und eine suggestive Wirkung des Orchesterklangs und der gesungenen Passagen. Der Stand-, Sitz- oder Liege-Ort der Zuschauer mittendrin verstärkt die Wirkung.

Und doch bleibt das Ganze am Ende ein Missverständnis, weil eine Betroffenheit jenseits des Kunstwerkes beschworen wird, die aber nicht aufkommt. Nicht, wenn eine Frau gegen die Tür des Eisernen Vorhangs trommelt und schreit, dass sie nicht sterben will. Nicht, wenn an der Brandmauer das Wasser plätschert und die Darsteller mehr als nur nasse Füße bekommen. Bei solchen naturalistischen Versatzstücken geht die räumliche Nähe zum Geschehen nach hinten los. Natürlich ist hier – zum Glück – niemand in Gefahr.

Auch, dass ein Chorist irgendwann (ganz modern selbstreferenziell) das Wort vom sentimentalen Betroffenheits-Scheiß fallen lässt und türenknallend aussteigt, hebt das Missverständnis der Inszenierung keineswegs dialektisch auf. Die zeitgeschichtlich verhafteten Grenzen von Nonos Werk, das mit hochmoralischem Impetus Flucht und Aufbegehren, Folter und Revolte, atomare Zerstörung und Dammbruch miteinander kombiniert, lassen sich nicht ohne weiteres verwischen.

Wie weit man mit dem Anspruch, persönliche Betroffenheit beim Publikum zu erzwingen in den Bastionen der Hochkultur (oder in ihrem Umfeld) gehen kann, hat Christoph Schlingensief erkundet. Seine Art von Betroffenheitstheater war aber vor allem deshalb wahrhaftig, weil er sich als Person zum emotionalen Kraftzentrum eines Gesamtkunstwerkes machte. Das war etwas anderes als Benedikt von Peters kühner, auf hohem Niveau gescheiterter Versuch. Das Premierenpublikum sah das anders und jubelte allen Beteiligten anhaltend zu. Ganz normal jetzt, vom Zuschauerraum aus.

Nächste Vorstellungen: 17., 25.9.