Renate Hoffmann: Wo die Erde atmet

  • Lesedauer: 5 Min.

Es sei kahl, kalt und lange Zeit hell oder lange Zeit dunkel dort, hieß es. Ich reiste. Nicht gleich bis zum Mittelpunkt der Erde – wohin Jules Verne seinen Protagonisten Otto Lidenbrock durch Einstieg in den Zentralvulkan des isländischen Snaefellsjökull (»Schneeberggletscher«) führte und Otto danach samt seiner Begleitung bei einem Lava-Ausbruch auf der Insel Stromboli wieder herausschleuderte. – Ich beschränkte mich darauf, die Aschewolke des unlängst aktiv gewordenen Vulkans auf dem Eyjafjalla-Gletscher aus der Luft zu betrachten. Respektvoll. Hatte das graue Gewölk doch den Flugverkehr gehörig in die Bredouille gebracht. Nun erst die Eruption! Sie glich einer »Reihe gigantischer Kerzen« beschreibt der Vulkanologe Haraldur Sigurdsson den Ausbruch. »Es war eine Schlacht zwischen Feuer und Eis.«

Nirgendwo sah ich solche Farben, so viele Zwischentöne. Man beginnt das Grau zu schätzen, wenn es sich edel dem Türkis des Wassers zugesellt. Oder als Basaltadern das helle, gleichsam roséfarbene Rhyolithgestein durchzieht, oder dem Orange gelb von Palagonitbergen als dunkler Obsidian Kontrast verleiht. Dagegen steht, über weite Flächen gebreitet, ein zurückhaltendes Braungrün. Und in der Ferne türmen sich Gletscher. Tafel- und Kegelvulkane. Sehnsuchtsberge – Drohberge.

Da sind die Formen und Strukturen. Alte Lava-Felder, gerissen und blasig aufgetrieben. Basaltsäulen, die den Svartifoss («Schwarzer Wasserfall«) wie Orgelpfeifen feierlich umstehen. Terrassenbänder, in Felswände eingesprengt und durch die Tektonik geneigt. Die Fantasie entzündende felsige Gebilde in der »Dunklen Stadt« (Dimmuborgir, im Naturschutzgebiet Myvatn – »Mückensee«): Löcher, Schuppenwände, verschrobene Auswüchse, Höhlen, dicke Warzen, tiefe Spalten. Ihre abweisenden Gebärden werden von Moorbirken und blühendem Weidengebüsch besänftigt. – Nun weiß ich, dass Elfen und Trolle in Island ihre Daseinsberechtigung haben.

In Reykjavik gibt es eine »Elfenbeauftragte« des Bauamtes, eine »Elfenschule«, an der natürlich »Elfenkunde« gelehrt wird. Vor dem Bau von Straßen und Häusern fertigt man auf Wunsch auch »Elfenkarten« zur Lage an. Ich beschloss ernsthaft, mir Auskünfte über diese Wesen (oder Unwesen) einzuholen. In »Arthur Spiderwicks Handbuch für die fantastische Welt ...« fand ich, wonach ich suchte. »Elfen«, so hieß es darin, sei nur der Oberbegriff für überirdische Gestalten, die man hinwiederum in viele Arten unterteilen könne. Zum Beispiel in: Irrwichte, Pixies, Trolle (Nocturnidae), Elfen, Waldgeister, Gnome und andere. Zu sehen wären sie mit Hilfe des zweiten Gesichtes. Und das besäße (im weiblichen Falle) die siebente Tochter einer siebenten Tochter; oder wenn man rothaarig zur Welt gekommen sei. – Ich hüte mich, darüber zu spotten (die Unwesen sind nämlich nachtragend) ...

Verwirrende Unwirklichkeit und von tiefem Erstaunen getragene Wirklichkeit nebeneinander. Der Vatnajökull (»Wassergletscher«) im Südosten des Landes. Eisgigant des gleichnamigen Nationalparks. Mit etwa 8100 Quadratkilometern Fläche ist er Islands größter und Europas zweitgrößter Gletscher. Vulkanzentren unter sich und die Weite des Himmels über sich. Fingern gleich, streckt er seine Eiszungen nach dem Süden aus, als wolle er sich mit dem Meer verbinden. In der Gletscherlagune Jökulsárlón gelingt es ihm. Sie öffnet sich zum Nordatlantik; Salzwasser und Frischwasser des Jahrtausende alten Eises mischen sich. Auf dem blaugrünen See treiben Eisberge, vom Wasser benagt und vielgestaltig verwandelt.

Im Amphibienfahrzeug gleitet man dicht an Kristallpalästen, Drachen, Riesenpilzen, Wikingerschiffen – und was sonst die Einbildungskraft beim Betrachten vorgaukelt – vorüber. Auf Eistafeln liegen Robben und beobachten ein wenig spöttisch die ängstlichen mitteleuropäischen »Seefahrer«.

In der isländischen Natur begegnen sich Kälte und Hitze. Gletscher und Geothermalgebiete mit Geysiren und blubbernden Schlammquellen. Bei der Ortschaft Skógar hüllt uns die Aschewolke vom Ausbruch des Eyjafjallajökull ein und hüllt alles in Dunkelheit. Jegliche Orientierung scheint aufgehoben. Wie eine symbolische Reinigung wirkt da der Anblick des Gullfoss («Goldener Wasserfall»), der in Kaskaden fällt und fällt. In ihm bricht sich das Sonnenlicht und wirft einen schimmernden Regenbogen. Und unweit vom Wasser regt sich das Feuer. Die Erde dampft. Ihr heißer Atem dringt aus vielen kleinen Wasserbecken; spritzt, gurgelt, plätschert und färbt, je nach der mineralischen Beschaffenheit, die Ränder bunt. Das sind die »Litli Geysire«. Ganz anders der große Springquell Strokkur (»Butterfass«). Er entlädt seine Kraft rhythmisch in einer hochaufsteigenden Fontäne. Schaulustige umstehen ihn, die Fotoapparate knopfdruckbereit. Im Sprudelloch steigt und sinkt das heiße Wasser, wölbt sich zu einer Blase. »Jetzt!« Aah und Ooh. Nein, noch nicht. Enttäuscht lässt man die Fotoapparate sinken. Just in diesem Augenblick schnellt die Wassersäule empor – und schickt, ermattet, noch einen schwachen Nachsprung hinterher. Das Spiel beginnt erneut. Brodeln, heben und senken, blähen, herausschießen. Zurückfallen.

Auf dieser Insel ist alles in Bewegung. Selbst die Erde dehnt und senkt sich. Hier reißt die Welt auseinander. Hier ist das Driften zweier Kontinentalplatten zu sehen. Brächte man es zu einem Mega-Spagat, so stünde man einerseits auf dem amerikanischen und andererseits auf dem eurasischen Teil des Globus.

Die günstige naturgegebene Lage war ausschlaggebend für ein historisches Ereignis, das über Jahrhunderte hinweg seinen Fortgang nahm. Als Europa noch im demokratischen Tiefschlaf lag, tagte in dieser Umgebung im Jahr 930 das »Althing«, erstes isländisches Parlament. Ich betrete den Boden mit Hochachtung.

Auf der Fahrt durch das Westland bringt sich Jules Verne wieder in Erinnerung. An Großartigkeit kaum zu überbieten, beherrscht der Snaefellsjökull das Bild. Esoteriker weisen ihm besondere Kraftfelder zu. Das mag wohl so sein ...

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