nd-aktuell.de / 31.05.2002 / Politik

Ohne Abi-Chance: "Ich war nicht angepasst"

Opfer Wilfried Tews und weitere Zeugen gehört

Claus Dümde
Im Prozess gegen drei ehemalige DDR-Grenzer wegen Schüssen auf einen Flüchtling am 23. Mai 1962 in Berlin haben gestern das Opfer, mehrere frühere Grenzer und ein pensionierter Kripo-Sachbearbeiter als Zeugen ausgesagt.
Sind Sie Herr Tews«, wurde gestern morgen vorm Saal 700 des Landgerichts Berlin jeder gefragt, der dem Alter nach der vor 40 Jahren erst 14-jährige Flüchtling sein könnte. Als der Richtige dann kurz vor 9 Uhr kam, groß, grauer Vollbart, etwas gebeugt, lehnte er es brüsk ab, Fragen der Reporter zu beantworten, die sich wie hungrige Wölfe auf ihn stürzten, und bat den Justizwachtmeister um Zuflucht im Saal. Die wurde ihm mit der Bemerkung »Sie müssen ja nichts sagen« verweigert. Also musste er sich anhören, wie »unsympathisch« er sei, dass man an seiner Stelle den »Mauerschützen« doch gleich an die Gurgel gegangen wäre... So ist der Heilpraktiker, der bei Flensburg lebt, aber nicht. Vor Jahren hat er einer Kollegin zu dem damals von Westberliner Polizisten erschossenen DDR-Grenzer Peter Göring gesagt, er sei doch im Grunde auch nur ein Opfer gewesen: »Der hat sich wie so viele da verheizen lassen. Das waren doch alles nur Jungs.« Aber mit gefährlichen Waffen und dem Auftrag, Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, »Grenzverletzer festzunehmen oder zu vernichten«. Tews hat erfahren, was das heißt. Dennoch erzählt er ruhig, warum er vor 40 Jahren abgehauen ist, wie er von Erfurt nach Berlin fuhr, das er nicht kannte, sich einen Stadtplan kaufte, auf dem aber der Westen nur eine graue Fläche war, sich in Grenznähe verschiedene Stellen anguckte und dann am Invalidenfriedhof die Flucht wagte - ohne zu wissen, dass hinter der stacheldrahtbesetzten Mauer, auf die er sich schwang, eine zweite und dahinter der Schifffahrtskanal war. Als er die Gegend erkundete, habe er zwei Grenzer, die gerade rauchten, gesehen, die ihn aber nicht. Erst kurz vor der Mauer sei er angerufen worden: Halt! Er sei aber über die 1. und dann die 2. Mauer, rein in den Kanal und schräg in Richtung auf eine Treppe in der Kaimauer am Westufer geschwommen. Da seien links und rechts Patronen ins Wasser eingeschlagen, er habe getaucht, sei dann beim Wiederauftauchen mehrfach getroffen worden, habe sich noch auf ein Podest am Fuße der Treppe ziehen können, doch sei dort entkräftet liegen geblieben, bis ihm jemand ein Seil um den Körper schlang, mit dem er geborgen wurde. Zuvor habe ihn erneut ein Geschoss am Unterschenkel getroffen, der noch im Wasser war. Im Krankenhaus Moabit stellte Oberarzt Dr. Frank je zwei Einschüsse mit Knochenzertrümmerung in Unter- und Oberschenkel, Durchschüsse an der Halswirbelsäule und der rechten Schulter fest. Diagnose: Lebensgefahr. Drei Wochen lag der Junge auf der Intensiv- dann fast sieben Monate auf Normalstation. Viereinhalb Monate in einer Reha-Klinik folgten. Tews linker Fuß ist versteift, Hüft- und Kniegelenk sind in der Beweglichkeit eingeschränkt, gelegentlich hat er noch Schmerzen, ist schwer beschädigt. »Hinterher ist man klüger. Viele sind dageblieben, haben auch ihr Leben gelebt«, sagt Tews nachdem er geschildert hat, was ihn zur Flucht trieb: »Ich bin gern zur Schule gegangen«, sagt Tews, »aber ich war nicht angepasst.« So habe er sich geweigert, Flugblätter fürs Pioniertreffen zu verteilen. Seine Bewerbung für die EOS - die zum Abitur führende Oberschule - wurde abgelehnt. Er sei »nicht würdig«. Da hat er alles riskiert... Weitere Zeugen warfen mehr Fragen auf, als sie beantworteten. So konnte sich ein Ex-Kripo-Sachbearbeiter, zwar 76, doch recht munter, an nichts erinnern, was er laut Akten im Mai 1962 tat: Untersuchung des Grenzabschnitts, Befragung vieler Zeugen. Die Erinnerung kam auch nicht wieder, als er mit den Protokollen und seiner Unterschrift konfrontiert wurde. Dafür der lapidare Satz: »Wenns da so steht, dann stimmt das auch.« Wirklich? Oder hat da das MfS Material für die Agitationskampagne »Mordüberfall der Frontstadt-OAS« (ND vom 25. 5. 1962) fabriziert und den Kripo-Mann nur als Feigenblatt genutzt? Und haben Grenzer durch (Falsch-)Aussagen Kameraden geschützt? Ein damals Vernommener sagte gestern, dass er den Angeklagten H. gar nicht kennt, über den er 1962 laut Protokoll gesagt habe, dass er auf einem Grabstein stehend über die Mauer Richtung Westen geschossen habe. Fortsetzung des Prozesses am Dienstag, Aufklärung ungewiss.