In Kreuzberg gibt es ein doppeltes Heimspiel

Vor dem Duell Deutschland – Türkei: Bewohner mit türkischen Wurzeln drücken beiden Teams die Daumen

  • Lesedauer: 3 Min.

Von Ulrike von Leszczynski, dpa

In Kreuzberg wird es in jedem Fall ein Heimspiel werden, das Fußball-Duell zwischen Deutschland und der Türkei an diesem Freitag. Ein Heimspiel im besten Sinne: Viele Berliner mit türkischen Wurzeln drücken im klassischen Migrantenviertel beiden Mannschaften die Daumen vor dem Match im ausverkauften Olympiastadion. »Hauptsache Freundschaft und keine verletzten Spieler«, sagt Memet Akzesme vor dem Nachbarschaftsladen in seiner Straße. »Ein Unentschieden wäre am besten.«

Wenn es in der Integrationsdebatte nicht um Sarrazin-Thesen oder Schulmobbing ginge, sondern um Fußball – dann wäre die Kreuzberger Welt völlig in Ordnung. Vom Fremdeln mit Berlin und der deutschen Kultur ist vor dem Spiel auf Kreuzbergs Straßen nichts zu spüren. »Ich lebe seit 35 Jahren in Deutschland. Das ist meine Heimat«, ergänzt Memet Akzesme. Warum solle er da beim Fußball plötzlich nur die Türkei anfeuern? »Das wird ein Spaß für alle«, sagt er. »Ein Tor, ein Bier – egal wer trifft.«

Ali Lale in seinem kleinen Kreuzberger Lädchen nahe dem Heinrichplatz hat nicht nur im Leben, sondern auch beim Fußball Kompromisse gemacht: Er schwärmt für Bayern München und für Galatasaray, Istanbuls Kicker-Club. So klingt seine Analyse für Freitag auch nicht national, sondern fachmännisch. »Deutschland hat verletzte Spieler. Darum könnte es die Türkei schaffen.« Egal, wer gewinnt – Ali Lale will seinen Spaß haben. »Mein Herz schlägt für die Türkei, aber ich lebe doch hier«, sagt er. Lale, das heiße auf Deutsch Tulpe.

Beim EM-Qualifikationsspiel am Freitag ist es ohnehin nicht leicht, streng nach Nationalitäten zu trennen. Mit Mesut Özil kickt ein Spieler mit türkischen Wurzeln für die Deutschen. Er ist der Mann, der bei der Weltmeisterschaft mit seinem Tor gegen Ghana Deutsche und Türken begeisterte, in Kreuzberg schwenkten sie deutsche Fähnchen. Ist es ein Problem, nun ausgerechnet Özil als Gegner zu haben? »Nö«, sagt Rojda Güleryüz, die mit ihrer Freundin durch Kreuzberg schlendert. »Da kann er doch auch nichts dafür.«

Gül Keskinler, Integrationsbeauftragte des Deutschen Fußball- Bundes, hat für die vielen deutschen Nationalspieler mit ausländischen Wurzeln eine Erklärung: Vielleicht sei das Fußballsystem durchlässiger als andere Bereiche der Gesellschaft, mutmaßt sie. Durchlässiger zum Beispiel als das Bildungssystem, bei dem die soziale Herkunft wie in kaum einem anderen EU-Land über den Schulerfolg entscheidet. Migrantenkinder haben es besonders schwer.

Fußball verbindet eben besser. »Deutschland ist stark, Deutschland gewinnt das Spiel«, analysieren Celal Kcabuk und Seyfettin Yesildag bei ihrem Tee im Kreuzberger Café. Derya Güres in ihrer Bäckerei ist anderer Meinung. »Özil spielt gut, aber die Türkei soll gewinnen«, sagt sie. Im Imbiss nebenan macht es sich Altug Akyuz etwas leichter. »Der Bessere soll gewinnen.« Eine Party werde es so oder so.

Nur Bratwurst und Bier wie im Olympiastadion wird es bei vielen türkischen Fußballfans in Kreuzberg nicht geben. Sie mögen lieber Döner, Tee und Ayran, das türkische Joghurtgetränk. Und wenn das Spiel vorbei ist, vielleicht noch einen Raki, überlegen Ali Lale und seine Freunde. Auf jeden Fall werde das ein schöner Freitagabend.

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