nd-aktuell.de / 21.10.2010 / Kultur / Seite 16

Lyrik und Wäsche

Nicholson Baker: Der Anthologist

Harald Loch

Ein Essay über die Poesie in Romanform – so etwas kann nur von Nicholson Baker stammen, dem vor 53 Jahren an der amerikanischen Ostküste geborenen Spezialisten für hybride Bücher. »Der Anthologist«, sein jüngster Roman in bemerkenswerter Übersetzung von Matthias Göritz und Uda Strätling, greift auch auf die musikalische Ausbildung des Autors zurück, wenn er die Rhythmik des Vierhebers lobt oder den fünffüßigen Jambus aus poetischen oder musikalischen Gründen von seinem Protagonisten ablehnen lässt. Paul Chowder, der Ich-Erzähler, kommt nicht aus dem Knick mit einer seinem Verlag versprochenen Einleitung zu einem Auswahlband mit Gedichten. Seine Freundin Rosslyn hat ihn wegen dieses Versagens verlassen – was die Dynamik seines Schreibprozesses auch nicht erhöht.

Gewinner dieser Schreibhemmung ist der Leser. Er gelangt in den unerhörten Genuss eines doppelgesichtigen Buches: die Ich-Erzählung des um die Liebe seiner Freundin ringenden Nichthelden und ein Diagonalschnitt durch die englischsprachige Poesie mehrerer Jahrhunderte. Im Anhang findet sich eine Liste der etwa 250 Gedichte, die der Autor zitiert, auf die er anspielt oder die er verfremdet.

So schreibt er sehr einfühlsam über Wystan Hugh Audens Gedicht »Musée des Beaux Arts« und über die Stelle, wo es um Breughels »Sturz des Ikarus« geht. Er reflektiert dann: »Christopher Isherwood hatte enormen Einfluss auf Auden. Das übersehen die Leute gern ... Isherwood war das Wachs an Audens Flügel.« Solche poetische, anspielungsreiche Literatureinschätzung wechselt sich auf wirklichkeitsnahe Weise mit den Banalitäten des Alltags, dem linkischen Umgang mit den Zumutungen des praktischen Lebens ab.

Paul Chowder weiß alles über Gedichte – aber wie er die Wäsche am besten aufhängt: keine Ahnung! Der schroffe Wechsel zwischen poetischem Essay und voller Humor erzählter, skurriler Daseinsbewältigungsprosa, das Span- nungsverhältnis zwischen literarischer Urteilskraft und alltäglicher Hilflosigkeit ergeben eine wunderbare Lektüre, die natürlich zum Lesen der Primärtexte einlädt.

Darauf ist die vierbändige Sammlung »Englische und Amerikanische Dichtung« bei C.H. Beck bzw. dtv nach wie vor die beste Antwort.

Bei Nicholson Baker darf man nicht die Eleganz und den Takt »glatterer« Essayisten erwarten. Wenn er über »Jede Menge Selbstmörder« unter den Dichtern schreibt, kommt er auch auf John Berryman zu sprechen, »der witzige Gedichte schrieb und dann aufhörte und sich von einer Brücke stürzte, flatsch, aus die Maus.« Das muss man auch erst einmal so übersetzen! »Der Anthologist« ist auch wegen seiner traurigen Stellen ein rundum beglückendes Buch. Wer die Einladung zum Weiterlesen annimmt, hat etwas für das ganze Leben!

Nicholson Baker: Der Anthologist. Aus dem Englischen von Matthias Göritz und Uda Strätling. C.H. Beck. 270 S., geb., 19,95 €.

Englische und amerikanische Dichtung. C.H. Beck. 4 Bände zweisprachig. 2700 S., geb., 99,90 €, in Broschur bei dtv: 50 €.