Ein Mann wahrhaften Musiktheaters

Zum Tode des Opernregisseurs Joachim Herz

  • Werner Wolf
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor wenigen Tagen erlebte Joachim Herz, schon von körperlicher Schwäche gezeichnet, zum 50-jährigen Jubiläum des Opernhauses Leipzig – nicht zu seiner ungetrübten Freude – noch die Neuinszenierung von Richard Wagners »Die Meistersinger von Nürnberg«, also jenes Werkes, mit dem das neue Haus in seiner programmatischen szenischen Gestaltung einst eröffnet worden war. Am 18. Oktober erschütterte viele Opernbesucher die Nachricht von seinem Tod.

Für den 1924 in Dresden Geborenen war Leipzig Heimat geworden, obwohl er nach 18-jährigem Wirken 1976 als Nachfolger seines Lehrers Walter Felsenstein an der Komischen Oper Berlin, in den 1980er Jahren als Chefregisseur an der Staatsoper Dresden und als Gast an zahlreichen Opernhäusern von Moskau über London bis Buenos Airos wirkte.

Das Zentrum der Arbeit von Joachim Herz in Leipzig bildete das Werk Richard Wagners, das Walter Felsenstein gemieden hatte. Herz aber nutzte 1960 in jener Eröffnungsinszenierung erstmals für ein Werk Wagners die von Felsenstein entwickelten Prinzipien des Musiktheaters und fand zu einer denkbar lebendigen szenischen Gestaltung aus der Musik heraus, die er genaustens kannte und die er im Unterschied zu manch heutigen Regisseuren auch spielen konnte. Es folgten in Leipzig ebenso durchdachte und bewegende Inszenierungen der Opern »Der fliegende Holländer« (zudem am Bolschoi-Theater Moskau und an der Komischen Oper Berlin) und »Lohengrin«. Mit ihnen baute er ein hauseigenes Ensemble für die große Herausforderung des Bühnenfestspiels »Der Ring des Nibelungen« auf.

Mit dem Bühnenbildner und Ausstatter Rudolf Heinrich und dem Dirigenten Gert Bahner ließ Joachim Herz 1973/76 in der »Ring«-Tetralogie Wagners kritische Darstellung der bestehenden Gesellschaft mit all ihren Gewalttaten, Gemeinheiten und Lügen, aber auch mit tief berührender Menschlichkeit zu einem erregenden, zum Nachdenken zwingenden Ereignis werden. Das war zum 100-jährigen Bestehen der Bayreuther Festspiele der eigentliche Jahrhundert-»Ring«, von dem 1976 die Bayreuther Inszenatoren um Patrice Chéreau ausgehen konnten.

Neben Wagner widmete sich Joachim Herz in Leipzig und anderwärts mit gleicher Hingabe und Genauigkeit den anderen großen Opernkomponisten, auch des 20. Jahrhunderts. Insgesamt 60 Werke kamen in 126 Inszenierungen und Wiederaufnahmen auf die Bühne. In seinen Mozart-Inszenierungen entdeckte er manch bisher oft überspielte Sendungen. Inmitten der Arbeit am »Ring des Nibelungen« wandte er sich – sozusagen als Ergänzung – der im Hitler-Deutschland verbotenen Oper »Die Hugenotten« von Giacomo Meyerbeer zu, Wagners anfänglichem großen Vorbild. Die auf die Erstfassungen zurückgehenden Inszenierungen von Giuseppe Verdis »Don Carlos«, Giacomo Puccinis »Manon Lescaut« und »Madame Butterfly« zeugen in besonderer Weise vom Streben, Werke mit all ihren Eigenheiten zu erschließen. Die Tiefgründigkeit und Lebendigkeit der Inszenierungen »Katja Kabanova«, »Jenufa« und »Schicksal« von Leos Janácek, »Die Frau ohne Schatten« von Richard Strauss erschlossen diese Werke einem weit größeren Besucherkreis, als er bis dahin zu verzeichnen war. Die großen russischen Choropern »Boris Godunow« von Modest Mussorgski und »Fürst Igor« von Alexander Borodin erhielten ihr spezifisches Gepräge durch die genaue Führung auch eines jeden Chorsängers.

Allein vier Mal inszenierte Joachim Herz »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« von Bertolt Brecht und Kurt Weill, zuerst und zuletzt an seiner ersten Wirkungsstätte, der Landesbühne in Radebeul, sodann in Leipzigs zweitem Musiktheaterhaus, der Musikalischen Komödie und zum Amtsantritt in der Komischen Oper Berlin. Außergewöhnliche Ereignisse bildeten die Aufführungen von Sergej Prokofjews »Krieg und Frieden«, Dmitri Schostakowitschs »Nase« und »Katerina Ismailowa«. Faszinierendes Theater gestaltete Herz auch mit »Albert Herring« und »Peter Grimes« von Benjamin Britten. Seine Inszenierung »Der junge Lord« rühmte der Komponist Hans Werner Henze als die beste.

Der Probenarbeit zu einer Inszenierung ging die ebenso intensive Erarbeitung einer bis ins letzte durchdachten Regiekonzeption voraus. Bei einem Werk wie »Der Ring des Nibelungen« hieß das, alle Quellen und Einflüsse, die literarischen, soziologischen und philosophischen zu untersuchen. Jedes Mitglied des Inszenierungsteams hatte seine spezielle Aufgabe zu lösen. Auf den Proben forderte Joachim Herz höchste Konzentration. Da musste mancher Sänger erst die hohen Anforderungen des Regisseurs verinnerlichen. Doch die Zustimmung der Zuschauer, die überregionale, dann auch internationale Anerkennung dieser Arbeit gab allen an einer Inszenierung beteiligten Solisten, Chorsängern, Musikern, Statisten, Bühnentechnikern, Inspizienten Gewissheit, dass sich diese Arbeit lohnte.

Seit der Ernennung zum Professor am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig hielt der umfassend gebildete Theatermann Vorlesungen, in denen er für künftige Dramaturgen, Regisseure, Theaterwissenschaftler seine Regiekonzeptionen vortrug und begründete. Vor allem in seinen letzten zwanzig Jahren war Herz auch als Vortragender im In- und Ausland, als Referent gefragt.

Mit Joachim Herz verliert das Musiktheater eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die lebendige Theatergeschichte geschrieben hat.

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