Puppenspiel und Moritatenschmiere

Im Hebbel inszeniert Patrick Wengenroth Karl Kraus’ »Die letzten Tage der Menschheit«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.
Wengenroth zeigt die Menschheit als Muppet-Show.
Wengenroth zeigt die Menschheit als Muppet-Show.

Karl Kraus erklärte seine »Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog« für unspielbar. Geschrieben hat er »Die letzten Tage der Menschheit« 1915-1922 als Reaktion auf den 1. Weltkrieg. Die gut 200 lose verknüpften Szenen montierte er aus Texten für seine Zeitschrift »Fackel« und Zitaten: Zeitung, Militärbefehl, Gerichtsurteil, Politikerrede. Dokumentarteile in surrealem Umfeld, historische Gestalten, Hindenburg, Österreichs und Deutschlands Kaiser, Kriegsjournalistin Schalek, neben Massen von gleichnishaften oder realen Figuren wie Soldaten. Nach dem Krieg arbeitete Kraus neue Fakten ein, fügte rund 50 Szenen hinzu, baute die Dialoge zwischen Optimist und, sich selbst meinend, Nörgler aus. Selten wird seine auf etwa zehn Abende berechnete Satire, die mit dem Untergang der unwürdigen Menschheit endet, gespielt: 1930 im Theater am Schiffbauerdamm, öfter nach dem 2. Weltkrieg, den zu erleben Kraus erspart blieb.

Was Johann Kresnik in den ehemaligen U-Boot-Bunker Bremen verlegte, siedelt fünf Jahre später Patrick Wengenroth im Hebbel am Ufer auf einer Kunstbühne mit drei Ebenen an. Ein vornehm gefalteter roter Vorhang verbirgt sie zu Beginn. Zum bitteren, original gelesenen Vorwort öffnet er sich mannsbreit in Podesthöhe. Eine Stimme aus dem Off stellt dann jeweils die Personnage der Szenen vor. Als der Mittelvorhang ganz aufgeht, erscheint Sam, ein grauer Vogel mit Federkragen. Bald tauchen mehr Puppen auf, unter denen Menschen stecken. Realgestalten könnten kaum mehr erklären, was sich ereignet: plötzlicher Völkerhass nach dem Sarajewo-Attentat, Hysterie vorm Ausbruch des Krieges, umjubelte Mobilmachung. Sieben Darsteller, häufig im Tierkostüm, wandeln sich in den vielen Parts. Als Ernie und Bert hinzukommen – winzig klein und ungehört – weiß man sich endgültig dort, wo Politik hingehört: zwischen Puppenspiel und Moritatenschmiere. »Serbien muss sterbien« wird mit heute neu aufgeladener Bedeutung verkündet, siegen ist alles, doziert ein Frosch über die Hoffnung auf den Endsieg.

Neutralisierend oder in den Texten die Aussage steigernd wirkt die Rockband »Die Türen« live vor dem Bühnenaufbau. Dahinter wird rüde zwangsrekrutiert, fallen traumatisierte Soldaten in Zweifel, rezitieren zwei fette Hofräte kriegsverändert Goethe und palavern über ihr schweres Leben fern der Front, ereifert sich die geile Journalistin zwischen Puppen: die Menschheit als Muppet-Show. Der blonde Jüngling, der Pathos von »Russen und Serben hauen wir in Scherben« – eine Farce. Kraus teilt aus, Wengenroth holt in begreifbares Format zurück, macht fröhlich bissiges Theater. Menschen-Seppl hat ebenso wie die Tourismus-Managerin in Fantasieuniform den Unterkörper einer Puppe. Ernie und Bert geben eine Lektion in Kriegslogik: Drei Minderjährige werden auf 21 gelogen, dürfen nun gehängt werden. Auch der Feldprediger möchte den Mörser feuern. Alles um die Kriegsberichterstatterin herum fällt, sie faselt heldisch weiter, tanzt Gogo zum Song »Mädchen meiner Träume«.

Auf der unteren Ebene philosophieren spitzfindig Optimist und Nörgler über das Verhältnis von Sprache und Sprecher, von Engländern und Deutschen, protzt ein ausgezeichneter Soldat mit Untaten. Oben singen tot geknebelte Husaren das Loblied des Krieges. Mit einem Text wie Spießers Credo verleppert die Inszenierung, die Band schiebt »Tanz – wir sind wieder wer« nach.

Als Umschlag von Manipulation in Desillusion überzeugt das; auch die grandiose Hitler-Parodie hat gesessen. Eine Verlängerung des Stücks ins ebenfalls gefährdete und belastete Heute bleibt der Abend dennoch schuldig.

Bis 27.10., 19:30 Uhr, HAU 2, Hallesches Ufer 32, Tel.: 25 90 04 27, weitere Informationen unter www.hebbel-am-ufer.de

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