nd-aktuell.de / 06.11.2010 / Brandenburg / Seite 14

Sehnsüchte im Land des Silbers

Die Akademie der Künste präsentiert eine beeindruckende Ausstellung mit Kunst aus Argentinien

Tom Mustroph
Hernán Dompé, »Rehue«, 1998
Hernán Dompé, »Rehue«, 1998

Wer in die Betongruft der Akademie der Künste herabsteigt, gelangt ans Ende der Welt. Ein Videotriptychon zeigt eine Handvoll Menschen, die auf einer Oberfläche wandeln, in der sich die Wolken spiegeln. Plötzlich prasseln dichte Regenschauer. Alles ist Wasser. »Schiffbruch der Menschheit« nennt Charly Nijensohn dieses Video, das er in der bolivianischen Salzwüste Uyuni in der Regenzeit aufnahm. Diese Arbeit ist der atemberaubende Schlusspunkt der Ausstellung »Realität und Utopie. 200 Jahre argentinischer Kunst«.

»Realität und Sehnsucht« wäre als Titel vielleicht treffender gewesen. In seinem Namen (argento – Silber) trägt Argentinien die Spuren der Begierde jener ersten plündernden Europäer. Deren Sehnsucht nach Reichtum kollidierte mit der Realität. Heutzutage stellen die damals als Beschwernis empfundenen geografischen Gegebenheiten – Weite des Landes, Unberührtheit und Schönheit – formidable Projektionsflächen für neue Sehnsüchte und Begierden dar. Dieses Wechselspiel von Wunschvorstellungen und Realitäten fängt die von Diana B. Wechsler kuratierte Ausstellung vorzüglich ein.

Empfangen wird man von drei kargen Kuben. Sie geben in ihrer Form wie in ihrer Verlorenheit in dem weitläufigen Raum einen Hinweis auf die Dimension des Territoriums – und auf den Willen des Menschen, es zu ordnen und zu erobern. Land ist Kapital, konstatiert Graciela Sacco. Mariano Sardón hingegen spürt dem flüchtigen poetischen Wissen der Landschaft nach.

In einem zweiten Raum wird durch Videoinstallationen und Fotografien die Weite des Landes, des Himmels und des Meeres ausgemessen. Ein dritter zeigt die Bevölkerung: Mal klischiert und durchaus mit Spuren von Selbstironie versehen als Gauchos, mal als trauernde Städtebewohner (anlässlich der Beerdigung von Juan Perón) sowie als indigene Großfamilie.

»Utopía« bezeichnet den folgenden Raum. Allerdings ist er eher mit Darstellungen schwarzer oder gescheiterter Utopien angefüllt. Liliana Porter vereint desillusioniert auf einer weißen Leinwand einen Teller mit Che-Porträt mit einer Statuette von Marilyn Monroe und Disney-Figuren. Oscar Bony hat ein goldenes Bild mit der Aufschrift »Utopía« mit zwei Schüssen penetriert. Am radikalsten und umfangreichsten setzt sich León Ferrari mit unterdrückten Utopien auseinander. Er kreuzigt Jesus auf einem Flugzeug der US Air Force, appliziert Altarbilder auf einen unbekleideten Frauentorso und fügt auf einer Collage die heimischen Militärdiktatoren mit Hitler zu einer Art Familienbild.

Faszinierender Endpunkt der Ausstellung ist eine von Aby Warburg inspirierte Bilderwunderkammer. Genre-, stil- und Epochen übergreifend bestückt Kuratorin Wechsler vier Themenkabinette. Im Zentrum des letzten steht die Kunstharzplastik eines nackten Menschen in Embryonalstellung. Dieses Werk, »The Same Everywhere«, war das einzige, das der Künstler Juan Carlos Distéfano ins Exil mitnahm, erzählt die Kuratorin. Eine Menschenfigur, nackt, schutzlos und exiliert, ist in der innersten Herzkammer dieser Ausstellung verborgen. Ein starkes Symbol in einer kraftvollen und klug arrangierten Ausstellung, die Kunst als Instrument zum Weltverstehen interpretiert.

Bis 14.11., Akademie der Künste, Pariser Platz, Mitte, Di.-So. 11-20 Uhr, Eintritt 6/4 Euro, 1. Sonntag im Monat frei, Tel.: 030-200 57-0