nd-aktuell.de / 29.11.2010 / Brandenburg / Seite 12

Horrortrip zur Festung Europa

SOS for Human Rights: Drama um Flüchtlinge / Aufrüttelnde Aufführung im Grips Mitte

Anouk Meyer
Horrortrip zur Festung Europa

Es ist kein fiktives Drama, leider. Zwar hat sich die Geschichte der drei jugendlichen Flüchtlinge Jamila, Naischa und Kerim, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um heimlich nach Europa zu gelangen, nicht eins zu eins so abgespielt; sie ist aber ein Destillat aus unzähligen Berichten von Immigranten, die Grips-Autorin Susanne Lipp zum Theaterstück »SOS for Human Rights« zusammengeschmolzen hat. Zu sehen ist die aufrüttelnde, mit Songs durchsetzte Aufführung für Jugendliche ab zwölf Jahren seit Mittwoch Abend im Grips Mitte.

Als Nachfolgeprojekt der Grips-Inszenierung »Hier Geblieben!«, in dem es um die Abschiebung einer Flüchtlingsfamilie ging, thematisiert das neue Stück das Bild Europas als Festung, die sich mit viel Geld gegen Flüchtlingsströme aus armen Ländern abschottet. Als Teil der gleichnamigen Kampagne bezieht »SOS for Human Rights« eindeutig Stellung – für die Menschenrechte von Flüchtlingen und das Freihalten von Fluchtwegen und gegen die Praktiken der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Laut Angaben der SOS-Kampagne kommen jedes Jahr Tausende von Flüchtlingen ums Leben.

Nun sind solche Zahlen zwar tragisch, Mitleid und Empörung aber kommen erst auf, wenn die traurige Statistik ein Gesicht bekommt. Ein Gesicht wie das der 13-jährigen Jamila, die in Potsdam ein stinknormales Teenie-Leben lebt – bis die Familie eines Tages nach Ghana abgeschoben wird. Dort kommt die hilflose Jamila, die sich mit einer fremden Kultur und unverständlichen Sprache konfrontiert sieht, bei ihrer Cousine Naischa unter, doch beiden ist klar: Eine Zukunft hat Ghana ihnen nicht zu bieten. »Ich bringe Dich zurück nach Hause«, verspricht Naischa – doch die lange Reise wird zum lebensgefährlichen Horrortrip. Ebenso wie bei Kerim aus Afghanistan, der schon zum wiederholten Mal den Versuch der illegalen Einreise wagt...

Eine kleine Plattform, zwei Liegestühle, ein Sonnenschirm, drei Plastikkanister: Mehr brauchen die drei Darsteller nicht, um vor den Augen der Zuschauer ein komplexes und bewegendes Bild der Flüchtlingsproblematik zu malen. Angelegt als mobiles Theaterstück, mit dem das Ensemble durch die Schulen der Bundesrepublik tourt, baut die Aufführung ganz auf die spielfreudigen Darsteller und die erschütternden Erfahrungen, die hier vermittelt werden. Mit einem geschickten Kunstgriff – das Stück wechselt zwischen Jetztzeit, Erlebnisbericht und direkter Ansprache an die Zuschauer – vermeidet Regisseur Philipp Harpain, dass der Eindruck eines Abenteuerberichts entsteht, und bringt mit einigen durchaus witzigen Szenen und etlichen Songs Abwechslung in das insgesamt düstere Bild, das hier gezeichnet wird. So schlüpfen alle drei Darsteller immer wieder kurz in andere Rollen, wobei sich Adil El Bouamraoui als Publikumsliebling erweist; wie ein Chamäleon wechselt er Körpersprache, Mimik und Gestik und überzeugt so als afghanischer Flüchtlingsjunge ebenso wie als schmuddeliger Lkw-Fahrer oder Baby. Dalila Abdallah gibt die Figur der Cousine Naischa ebenso glaubwürdig wie etwa eine Touristin aus Oranienburg (»Diiieta, machste ma’n Foto?«), während die junge Veronica Naujoks die Hauptidentifikationsfigur Jamila erfrischend naiv spielt.

Klar, wer sich noch nie mit der Thematik befasst hat, für den ist das etwa 90-minütige Stück starker Tobak. Doch die Schicksalsberichte, die dem Grips-Theater vor allem von der bundesweit organisierten Vereinigung Jugendliche ohne Grenzen e.V. (JOG) zur Verfügung gestellt wurden, beinhalten all dies – und schlimmeres. Wer sich einmal die Fotos der unfassbar voll besetzten Nussschalen anschaut, mit denen Afrikaner die Passage übers Mittelmeer versuchen, zweifelt nicht an der Gültigkeit der Handlung. Für Schulen ist außerdem eine umfassende Nachbereitung vorgesehen. So ist das neue Grips-Stück ein leidenschaftlicher, kritischer Appell für eine andere EU-Grenzpolitik und mehr Menschlichkeit im Umgang mit Flüchtlingen – egal, woher sie kommen.

Wieder am 2., 5.12., 18 Uhr, 3./4.12., 19.30 Uhr, 6.1.2011, 11 Uhr, 3./4.2., 18 Uhr; Grips Mitte im Podewil, Klosterstr. 68, Mitte, Karten unter Tel. 39 74 74 77, Informationen im Internet unter www.sos-for-human-rights.eu[1]

Links:

  1. http://www.sos-for-human-rights.eu