Verloren zwischen den Kulturen

Nur in wenigen Regionen werden depressive Migranten besonders betreut

  • Katia Rathsfeld, dpa
  • Lesedauer: 3 Min.
In Deutschland leben etwa 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Viele leiden in ihrer neuen Heimat unter Depression und hegen Selbstmordgedanken. Das bleibt oftmals unentdeckt – bis es zu spät ist.

Günzburg. Mit zwölf Jahren kommt Nesrin (Name von der Redaktion geändert) aus Afghanistan nach Deutschland. In ihrer neuen Heimat versucht sie, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Doch ihre Eltern und die sieben Brüder wissen das zu verhindern. Mit 18 Jahren wollen sie die junge Erwachsene mit einem Cousin verheiraten. Als Nesrin davon erfährt, versucht sie in ihrer Verzweiflung, sich das Leben zu nehmen.

Erst jetzt wird Marc Ziegenbein an der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie in Hannover auf sie aufmerksam. Denn Hilfe hat die Afghanin nie zuvor gesucht. »Junge Frauen mit Migrationshintergrund sind die am meisten durch Suizid gefährdete Bevölkerungsgruppe«, sagte der stellvertretende Klinikdirektor bei einer Tagung im schwäbischen Günzburg.

Heimweh und Statusverlust

Viele Menschen hätten in der neuen Umgebung Probleme, sich einzufinden, sagte Meryam Schouler-Ocak, Psychiaterin an der Berliner Charité. Einsamkeit, Heimweh und auch der Statusverlust führten zu Depressionen oder sogar Selbstmordgedanken, betonte die Expertin. Die Warnzeichen blieben aber meist unerkannt, wie auch im Fall von Nesrin. Grund dafür sei unter anderem, dass Migranten nur selten offen von ihren Beschwerden erzählten. Und wenn, dann nur auf Nachfrage.

»Viele deutsche Therapeuten erwarten, dass der Patient ihm einen Auftrag gibt«, betonte die türkischstämmige Psychologin Sevim Yilkin-Cetinkaya. Türkische Männer und Frauen wiederum scheuten sich genau davor. So habe ihr ein älterer türkischer Mann einmal gesagt: »Sie wissen besser Bescheid, was für mich gut ist.«

Mit Migranten müsse man als Therapeut deshalb aktiver arbeiten, mehr fragen und die Patienten stärker leiten. »Sie erwarten das«, so Yilkin-Cetinkaya. Auch Klinikdirektor Ziegenbein hat diese Haltung bei türkischen Migranten beobachtet. So hätten Befragte einer Studie beispielsweise gesagt: »Türkische Ärzte sagen mir, was ich habe. Deutsche Ärzte wollen die Krankheit von mir wissen.«

Die Angst vor Gerede

Bis es überhaupt zu einer Behandlung kommt, vergeht häufig viel Zeit. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass das zum einen an der Angst der Menschen vor einer Stigmatisierung liegt. »Sie haben Angst vor Gerede«, sagte Psychiaterin Schouler-Ocak. In Berlin etwa gebe es eine große türkische Gemeinschaft, in der sich viele untereinander kennen. Da sei die Angst vor der Entdeckung groß. Auch die Angst vor der Reaktion der Familie hindere viele am Besuch einer psychotherapeutischen Praxis. »Wenn, dann geht man zum Hausarzt«, erklärte die Ärztin. Erst über Umwege gelangen diese Patienten dann an Therapeuten wie Sevim Yilkin-Cetinkaya. Und für einige hatte das »Outing« ihrer Krankheit auch positive Effekte. »Ich habe es schon erlebt, dass ein gewalttätiger Ehemann milder mit seiner Frau wurde und das Gespräch suchte, als er von ihrer psychischen Erkrankung erfuhr«, erzählte die Psychologin.

Im Fall von Nesrin, dem afghanischen Mädchen, gab es keine Aussöhnung. Sie lebt mittlerweile alleine. Getrennt von der Familie, die sie einst kontrollierte.

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