nd-aktuell.de / 08.06.2002 / Kultur

Unbekannter Magier

Rudolf Borchardt in neuen Publikationen

Klaus Bellin
Er konnte sehr früh lesen. Bücher, sagt er, sind seine Freunde gewesen, Balladen und Romanzen, Sagen und Märchen, Ritter und Könige. Andere Freunde hatte er nicht, keine Kameraden, keine Spielgefährten. Er lebte mit Eltern und Geschwistern in einem der pomphaften Gründerbauten in Berlins neuem Tiergartenviertel, nicht weit von der Siegessäule entfernt, betreut fast nur von bezahltem Personal, das rasch wechselte. Die ersten Jahre, die ohne Erinnerung blieben, hatte er in Königsberg verbracht, wo er am 9.Juni 1877 geboren worden war, doch bald danach schon hatte es den Vater, einen Kaufmann, in die deutsche Hauptstadt gezogen, wo er ein Bankhaus übernahm, und er, der scheue Stubenhocker und Einzelgänger, hatte nur Wörter und Sätze, an die er sich halten konnte. Er zerlas ein Buch nach dem anderen und baute sich nach und nach eine eigene Welt. In seinem fünfzigsten Jahr sah Rudolf Borchardt noch einmal zurück. Sein Leben wollte er erzählen, die ersten 25 Jahre wenigstens, die Tage in der riesigen, unübersichtlichen Etage eines Mietshauses und wie er sich zum Englischen auf eigene Faust auch noch Italienisch, Arabisch und Sanskrit aneignete, die Konflikte mit dem strengen Vater, die Zeit am Französischen Gymnasium und die Studienjahre in Berlin, Bonn und Göttingen. Enden wollte er 1902. Da war es nach vielen Zerwürfnissen zum Bruch mit der Familie gekommen, und da hatte er Hugo von Hofmannsthal kennen gelernt, den Freund, der immer auch Konkurrent war. Aber der Bericht wurde nie fertig. Was er 1926 und 1927 (unter dem Titel »Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt«) schrieb, erschien lediglich in einer Münchner Tageszeitung, dann, 1966, in einem Hamburger Privatdruck und erst 1990 im letzten Prosaband der großen, von Klett-Cotta veranstalteten Gesamtausgabe. Die Publikation in der Bibliothek Suhrkamp, ergänzt noch durch die Neuausgabe jener Gedichtauswahl, die Theodor W. Adorno 1968 vorgelegt hat, ist die erste eigenständige Edition dieses Textes, die nicht bloß auf den winzigen Kreis Eingeweihter zielt. Dieser breit hinfließende Bericht über eine Kindheit und Jugend glänzt allerdings weniger durch die autobiografischen Auskünfte, die er gibt, als durch die eingewebten Exkurse über die Familiengeschichte, über Königsberg und seine Historie, Kindererziehung oder Schulbücher im 19. Jahrhundert. Er selber, der Autor, ist aus der Nähe immer nur kurz zu sehen. Er ist ein Junge unter gleichgültigen Eltern, ein Schüler mit nur mäßigen Leistungen, und am Ende bleibt er allein in Berlin zurück, um weiter die Schule zu besuchen. Er gerät nun in die Hände einer alten Bedienerin und eines Studenten, der es mit seinem Auftrag nicht so genau nimmt, und diese beiden gehören zur Hand voll Figuren, die auf diesen Seiten überhaupt ihr Gesicht zeigen können. Über die Mutter, nebenbei, verliert der Autor kein Wort. Von allen großen Schriftstellern, die in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts schrieben, ist Borchardt vielleicht der unbekannteste, ein feines, offenbar folgenlos grassierendes Literaturgerücht. Begeistertes, ja enthusiastisches Rühmen auf der einen Seite und hilfloses Achselzucken auf der anderen: Die Reaktionen könnten, wo sein Name fällt, extremer kaum ausfallen. Er war Lyriker, Prosaist, Dramatiker, ein Nachdichter und Rhetoriker von Rang, Italienkenner, Übersetzer antiker und mittelalterlicher Lyrik, der »Göttlichen Komödie« und der englischen Romantiker, Verfasser eines Gartenbuches und Autor gelehrter Abhandlungen, deren Thesen meist veraltet und überholt sind und die frisch bleiben allein durch die Gewalt, die suggestive Kraft seiner Sätze. Borchardt war ein Sprachbesessener, wortmächtig und unerbittlich in seinem Anspruch, ein Mann des hohen Tons, selbstverliebt und mit dem Hang zur großen Geste, ein herrischer, hochgebildeter, snobistischer und zuweilen auch unausstehlicher Einzelgänger, ein dämonischer Magier, der sich seiner Zeit verweigerte, sich in Italiens Berglandschaft zurückzog und dort mit den großen Toten lebte, vorzugsweise Dante und Homer. Noch in den letzten Monaten seines Lebens, im Herbst und Winter 1944, als ihn die Kriegswirren in ein kleines Nest im Inntal verschlagen hatten (er starb am 10. Januar 1945), korrespondierte er mit Rudolf Alexander Schröder unermüdlich über Homer, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Für ihn gab es tatsächlich nichts, was wichtiger gewesen wäre. Die Turbulenzen um ihn herum haben daran nichts ändern können. Anders als literarisch konnte er nicht existieren. Er war unterdessen fest davon überzeugt, dass der Autor, der einst die »Odyssee« schuf, »eine klar umschriebene geschichtliche Persönlichkeit« ist. Er war Jude, und er war stockkonservativ. Als die Nazis an die Macht kamen, lebte er längst, seit einem Vierteljahrhundert schon, in Italien, ein preußisch fühlender Bohemien, ein Aristokrat des Geistes, dem Männerschweiß und Gossenton nur Schaudergefühle verursachen konnten. Er war Feind aller Geistlosigkeit, und er machte, wenn es um Hitler und seine Anhänger ging, aus seinem Herzen keine Mördergrube. In Deutschland wurde er nach 1933 nicht mehr gedruckt. Er war und blieb Traditionalist mit unverkennbar monarchistischen Neigungen. In den toskanischen Villen und Schlössern, die er trotz Geldknappheit bewohnte, empfing er allerlei gekrönte und ungekrönte Häupter, einmal sogar den Duce, dem er stolz ein Prachtexemplar seines »Dante Deutsch« überreichte. Geschrieben hat Borchardt schon früh, aber er hat nur wenig und meist an entlegenen Orten publiziert. Das ganze Werk, versammelt in 14 Bänden, bekam erst die Nachwelt zu sehen, 1990, als die Klett-Cotta-Ausgabe endlich komplett vorlag. Sie war ein Ereignis, denn sie hat Borchardt überhaupt erst sichtbar gemacht. Bekannter wurde er dadurch nicht. Noch immer wartet er darauf, wahrgenommen zu werden. Nicht, dass er überhaupt keine Leser hätte. Es gibt eine kleine Schar von Kennern, die nicht müde wird, von ihm zu sprechen, für ihn zu werben, vor allem: dafür zu sorgen, dass er gedruckt wird. Der Wichtigste in diesem Kreis ist Heribert Tenschert, Antiquar in Niederbayern, ein quirliger, besessener Mann mit Millionenumsätzen (dem u. a. die Rückführung des Quedlinburger Domschatzes gelang), der als Schüler schon auf Borchardt stieß und seitdem zu seinen emsigsten (und einflussreichsten) Fürsprechern zählt. Er hat vor knapp zehn Jahren im Carl Hanser Verlag die Edition Tenschert ins Leben gerufen, die das umfangreiche Briefwerk Borchardts ans Licht bringt (zuletzt erschien dort, in zwei Bänden, die hoch gerühmte Korrespondenz mit Rudolf Alexander Schröder), und in Rotthalmünster, einem kleinen Ort südwestlich von Passau, finanziert er auch noch das Rudolf-Borchardt-Archiv, das er vor kurzem gründete und das vor allem die Voraussetzungen für eine künftige kritische Werkausgabe schaffen will. Noch ist das Bild dieses Autors unscharf. Eine Biografie gibt es nicht. Das wichtigste Buch, das über ihn Auskunft gibt, ist der dicke Marbacher Ausstellungskatalog von 1978, den er sich mit den Gefährten Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder teilt. Jetzt, zum 125. Geburtstag, hat Gerhard Schuster, der gute Geist des Borchardt-Archivs und glänzende Editor der Briefbände, ein paar Blätter aus dem Stapel jüngst aufgefundener Texte im (nur Borchardt gewidmeten) Heft der Zeitschrift »Akzente« veröffentlicht und mit schönen, erhellenden Kommentaren versehen. Die wundervollsten Sachen stehen gleich vorn: Schreiben des Studenten an den Göttinger Juristen und Büchersammler Otto Deneke. Es sind Bettelbriefe von überwältigender stilistischer Kraft, verfasst von einem, der ständig knapp bei Kasse war und der seine Geldnot in berauschenden Satzperioden signalisierte.
Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt. Mit einem Nachwort von Gustav Seibt. 168 Seiten, gebunden, 12,80 EUR. Ausgewählte Gedichte. Auswahl und Einleitung von Theodor W. Adorno. 114 Seiten, gebunden, 11,80 EUR. Beide in der Bibliothek Suhrkamp. Akzente. Zeitschrift für Literatur. Heft 2, April 2002. 192 Seiten, Broschur, 7,30 EUR.