Vorwärts und nicht vergessen …

Wie sich das serbische Pharmaunternehmen Jugoremedija, geschult durch die Arbeiterselbstverwaltung, behauptete

  • Ursula Rütten, Zrenjanin
  • Lesedauer: 7 Min.
Seit Beginn der 90er Jahre ist Serbien einer beispiellosen Deindustrialisierung ausgesetzt: erst durch Krieg und Embargo, dann durch forcierten Systemwandel. Die Politik der radikalen Umwandlung von Wirtschaft und Gesellschaft, die die Verelendung großer Teile der Bevölkerung besiegelte, hat einen Namen: Enteignung durch Privatisierung. Jugoremedija in Zrenjanin stemmt sich dagegen – mit Teilerfolg.

»Ich glaube nicht, dass der Sozialismus wieder zurückkehren kann«, sagt Branislav Markuš, ohne lange nachzudenken, »aber das Beispiel von Jugoremedija zeigt, dass es einer Betriebsleitung gemeinsam mit der Belegschaft möglich ist, eine Fabrik zu führen. Auch nach kapitalistischen Kriterien.« Keine Fabrik mit rauchenden Schloten und lärmenden Maschinen, sondern ein moderner Gebäudekomplex, in dessen klinisch sterilen und doch atmosphärisch freundlichen Produktionsräumen 120 verschiedene pharmazeutische Präparate, Tabletten, Dragees, Salben, Ampullenfüllungen erzeugt werden. In Zrenjanin, in der nordserbischen Vojvodina.

Über ein Drittel der Erwerbsfähigen sind in dieser Stadt mit 80 000 Einwohnern arbeitslos. Bei Jugoremedija sind zurzeit 460 Frauen und Männer angestellt. Branislav Markuš arbeitet dort seit 18 Jahren als Chemietechniker im Bereich der Qualitätssicherung. Die Umstände in Politik und Wirtschaft ließen ihn zu einem der Wortführer im Kampf um die vom Privatisierungskahlschlag betroffenen Betriebe in Serbien werden.

»Wir, also die Belegschaft, haben bewiesen, dass wir die Produktion selbstverantwortlich erweitern und den Wert unseres Betriebes steigern können«, fährt Markuš fort. »Wir sind gleichzeitig Eigentümer und Aktionäre von Jugoremedija. Und es ist logisch, dass umso motivierter gearbeitet wird, je mehr man Anteil an seiner Firma und am Gewinn seines Arbeitsproduktes hat.«

Aufrechterhaltung und Erweiterung der Produktion sind Ergebnis eines jahrelangen zermürbenden Kampfes – gegen Raubrittermentalität, für den Fortbestand des Betriebes und der Arbeitsplätze und um das noch keineswegs verwirkte Recht auf Anteile am vormals gesellschaftlichen Eigentum. Die Option betrieblicher Selbstverwaltung inbegriffen.

»Tatsache ist, dass die Politik des Übergangs vom Sozialismus in den Kapitalismus nur darauf ausgerichtet war und ist, das Eigentum der Arbeiter auf brutale Weise zu enteignen, ihnen ihre angestammten Produktionsmittel zu nehmen und sie irgendwelchen serbischen Tycoons zu überlassen, die keine Ahnung davon haben, wie man eine Firma managt und betriebswirtschaftlich führt«, weiß Zdravko Deuric aus einschlägiger Erfahrung. Seit wenigen Jahren hat der Mittvierziger den weißen Kittel eines Technikers gegen Anzug, Krawatte und blütenweißes Hemd getauscht. Der charismatische Streikführer, Stratege eines der längsten Arbeitskämpfe in Serbien gegen einen jener berüchtigten Tycoons, ist heute der von der Belegschaft gewählte Direktor und Vorsitzender des Verwaltungsrates von über 4000 Kleinaktionären von Jugoremedija. Das ist das vorläufige Ergebnis der Revision einer wilden Privatisierung. Und bislang der einzige Sieg in einer langen Reihe von Arbeiterkämpfen im heutigen Serbien.

Enteignung durch Privatisierung

Jugoremedija wurde 2002 privatisiert. Dies jedoch noch nach einem Gesetz von 1997, für das der letzte (pro)jugoslawische Ministerpräsident und Reformpolitiker Ante Markovic verantwortlich zeichnete. Das nach dem Sturz von Slobodan Miloševic 2001 erlassene Privatisierungsgesetz revidierte jenes von 1997 in entscheidenden Punkten: Es entmachtete die bis dahin selbstverwalteten Belegschaftsversammlungen, ohne deren Zustimmung keine Privatisierung erfolgen durfte. Und es stufte sie ins letzte Glied im Anrecht auf Aktienanteile am Firmenkapital. Die Privatisierung wurde zwingend und musste bis 2008 abgeschlossen sein. Private Investoren konnten bis zu 70 Prozent eines Betriebes auf Auktionen erwerben. Der Rest wurde den Arbeiterkollektiven zwar überlassen, ihr Mitbestimmungsrecht war jedoch faktisch beendet. Auch aus der Wertschöpfung wurden sie verdrängt. Tausende Betriebe wurden verscherbelt, in den Bankrott geführt oder versteigert.

Vergeblich kämpfte beispielsweise die Belegschaft des Eisenbahnbauwerks Šinvoz in Zrenjanin darum, dass die reichlich anfallenden Arbeiten auch weiterhin ebendort ausgeführt werden. Die Aufträge gehen stattdessen ins benachbarte Rumänien, weil dem neuen Eigentümer Provisionen durch einen solchen Deal wichtiger sind als der Erhalt von Wirtschaftskraft in der Region und die Sicherung des Überlebens zahlreicher davon abhängiger Familien.

»Der Grund für den Arbeitskampf um Jugoremedija ist Jovica Stefanovic, genannt ›Nini‹. Eigentlich sollte der einen Anteil von 42 Prozent der Firma erhalten.« Direktor Deuric lässt den Krimi vom Kampf um seine Firma im Konferenzraum der Chefetage von Jugoremedija noch einmal Revue passieren. Stefanovic »Nini« aus Niš ist ein berüchtigter Großindustrieller aus der Miloševic-Ära, nach dem Interpol seinerzeit wegen Zigarettenschmuggels fahndete. Er kaufte sich in Brauereien, Zuckerfabriken, Tabakfabriken und Unternehmen der Chemo- und Pharmaindustrie ein. Auch Jugoremedija weckte sein Begehr. »Der Kaufpreis von Jugoremedija betrug 3,6 Millionen Euro. Die hat er auch bezahlt, natürlich mit der Verpflichtung, in Produktion und Rekonstruktion zu investieren«, fährt Deuric fort. »Wir wussten aber nichts von seinem Deal mit der Privatisierungsagentur, wonach der Sanierung eine Rekapitalisierung des Betriebs folgen sollte, durch die Stefanovic Mehrheitseigentümer des Unternehmens geworden wäre.«

Der Konflikt entzündete sich ein Jahr nach dem Verkauf im März 2003. »Nini« habe sich von Anfang an als Boss aufgespielt, aber von einer Sanierung des Unternehmens sei keine Rede mehr gewesen. Den Lagerbestand im Wert von über 12 Millionen Euro habe »Nini« gleich abgezogen, verkauft und den Gewinn eingesteckt. Zuvor hatte sich der Staat aus der Verantwortung gezogen, seine Anteile an eben diesen Spekulanten verkauft und damit eine Vorlage für die Manipulation der rechtlich anfechtbar veränderten Mehrheitsverhältnisse geschaffen.

Die Belegschaft trat in den Streik. Mit dem Ergebnis, dass die Staatsmacht ihre Muskeln spielen ließ. Die Polizei rückte an und beendete den Ausstand gewaltsam. Deuric und andere Streikführer wurden verhaftet. Nach drei Tagen waren sie zwar wieder frei, vom Betrieb jedoch fortan ausgesperrt, ebenso wie weitere 150 am Streik beteiligte Belegschaftsmitglieder. Stefanovic »Nini« wurde als Betriebsleiter bestätigt – und führte die Firma prompt an den Rand des Ruins. 2006 wurde die Produktion gestoppt, monatelang wurden keine Löhne gezahlt, Telefon- und Stromrechnungen blieben offen, weshalb der Staat seinerseits ein Insolvenzverfahren anstrebte.

Bündnis mit 3700 Kleinaktionären

Weder Deuric noch Markuš verstehen sich als Maschinenstürmer. Sie wollen auch nicht als jugonostalgische Selbstverwaltungsromantiker gelten, aber sie sind geschult und erfahren aus Zeiten der Arbeiterselbstverwaltung. Als sie in den Folgejahren gemeinsam mit den ausgesperrten Arbeiterinnen und Arbeitern um die Rechte und für den Fortbestand ihrer Firma stritten, trugen sie Argumente dafür in die Gerichtssäle. Nach gut drei Jahren Kampf – die halbe Bevölkerung von Zrenjanin ging dafür auf die Straße – und Besetzung der Fabrik musste »Nini« 2007 klein beigeben. Ein Gericht bestätigte die Unrechtmäßigkeit seines Raubzugs. Der 42-Prozent-Anteil fiel an den Staat zurück.

Kleinaktionäre und Werksangehörige von Jugoremedija bildeten ein Bündnis als Basis für eine selbstverwaltete Betriebsführung. Ein Großteil der Belegschaft hält derzeit gemeinsam mit 3700 außerbetrieblichen Kleinaktionären die Aktienmehrheit von 58 Prozent. Ein fünfköpfiges Komitee leitet Produktion und Vertrieb. Mit Mitteln aus rückgeführtem Kapital, hohen Bankkrediten und persönlichen Geldeinlagen wurden Produktionsanlagen modernisiert und weitere Grundlagen geschaffen, um die Produktpalette zu erweitern. Allein deshalb haben 45 Vertreter der Aktionärsversammlung eine GmbH gegründet, private Kredite aufgenommen und Bauland gekauft. Das war Voraussetzung dafür, dass die Herstellung von Antibiotika vorschriftsgemäß ausgelagert werden konnte. Denn die Zukunft von Jugoremedija liegt in der Wettbewerbsfähigkeit auf dem internationalen Markt.

Immer noch steht dafür ein Gütesiegel aus: das »Good Manufacturing Practice«-Zertifikat, kurz GMP, als Nachweis für die Erfüllung von EU-Qualitätsstandards. Die Zeit drängt, und auch immer mehr Aktionäre tun es, die ihre Anteile verkaufen möchten. Wohl nicht zuletzt, um selber überleben zu können. Die Werksleitung ist in der Zwickmühle: Verkaufen aus Respekt vor den Kleinaktionären, die so lange solidarisch waren und jetzt Geld brauchen? Oder die Aktien halten bis nach der GMP-Zertifizierung? Deuric sagt: »Wir müssen verkaufen. Unser Ziel ist aber, den Staat zu bremsen, damit der die Kleinaktionäre nicht bewegt, ihre Anteile vor der Zertifizierung und damit vor der Wertsteigerung zu verkaufen. Es muss eine gemeinsame Lösung gefunden werden, damit nicht ein Käufer den Zuschlag erhält, den wir nicht wollen, wie das schon einmal der Fall war.« Auch den Kleinaktionären soll die Option erhalten bleiben, sich als Alleinbesitzer zu bewerben. Abgesprochen ist jedoch, dass als strategischer Partner ein Interessent aus dem Bereich der Pharmaindustrie gesucht wird.

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