nd-aktuell.de / 18.12.2010 / Kultur / Seite 29

Seidenschwänze als Wintergäste

Gartentiere: Invasionsvögel aus dem Norden fliegen ein

Prof. Dr. Ulrich Sedlag, Zoologe

Es war in den letzten Novembertagen. Im Nussbaum des Nachbarn, den ich vom Schreibtisch aus sehe, saß im fahlen Morgenlicht ein Schwarm Vögel. Stare, dachte ich. Diese hatten sich seit Wochen nicht mehr gezeigt, stellen sich gelegentlich aber selbst mitten im Winter ein, auch an meiner Futterstelle. Doch es waren nicht Stare, sondern Seidenschwänze, wohl kaum weniger als 50.

Seidenschwänze (Foto: Peter Gerstbach) sind nordische Vögel, die aus Finnland kommen mögen. Ihr riesiges Verbreitungsgebiet erstreckt sich von Skandinavien ostwärts bis zur Halbinsel Kamtschatka und jenseits des Pazifiks bis Alaska und Kanada. Im Sommer ernähren sie sich als Waldvögel vorwiegend von Insekten, in der kalten Jahreszeit von Beeren und anderen Früchten. Es ist wohl der Wechsel von guten Ernährungsbedingungen (die die Aufzucht besonders vieler Jungen ermöglichen) und nachfolgendem Mangel, der die geselligen Tiere in ganzen Schwärmen bis nach Mitteleuropa und gelegentlich noch darüber hinaus auswandern lässt.

In einem anderen Jahr vertilgten sie im Garten die Mistelbeeren, die ich ihnen nicht mehr bieten kann, da mir nur eine männliche Mistel verblieben ist. Kurz nach ihrer Mahlzeit hingen damals allen Vögeln Fäden des klebrigen Mistelschleims aus dem After. Sicher haben die Seidenschwänze, auch wenn sie nur gelegentlich zu uns kommen, eine Bedeutung für die Ausbreitung der Misteln, für deren Samen es nach Abfallen der Beeren kaum eine Chance gibt.

Als den Seidenschwänzen vergleichbare Invasionsvögel aus dem Norden finden sich in manchen Jahren Erlenzeisige und, oft in riesiger Anzahl, Bergfinken bei uns ein. Diese Vögel bereichern mitunter wochenlang das Leben an der Winterfütterung.

Der erwähnte Nussbaum ist oft geradezu schwarz, wenn im Schwarm andere Wintergäste einfallen, die Saatkrähen. Sie sind zwar auch heimisch, lassen sich aber im Sommer nicht sehen, während einzelne Nebelkrähen »die Stellung halten«. Weniger auffällig ist winterlicher Zuzug bei den Kohlmeisen, die im Garten sonst nur spärlich auftreten, aber in großer Zahl an der Futterstelle erscheinen.