nd-aktuell.de / 22.12.2010 / Politik / Seite 15

Ein Neustart für das System

Das Kunstprojekt systemfehler_neustart kämpft für soziale Gerechtigkeit

Das Kunstprojekt systemfehler_neustart will die »Programmierfehler« der Berliner Demokratie offenlegen und in einem Modellversuch vor Brandenburger Tor und Reichstag Veränderungen durchspielen. Das Projekt der Berliner Konzeptkünstlerin Ute Z. Würfel und der Leipziger Malerin Verena Landau hat die Strahlkraft von Christos und Jeanne-Claudes Reichstags-Verhüllung, ist politisch jedoch stärker aufgeladen. Pläne sind bereits gezeichnet, Architekten, Wissenschaftler und Künstler gewonnen. Die Aufforderung zum Neustart des Systems wird auch bei Demonstrationen in die Öffentlichkeit getragen, zuletzt beim Protest gegen Stuttgart 21. Mit den Künstlerinnen sprach Tom Mustroph.

Was ist systemfehler_neustart?

Dezember-Demonstration gegen Stuttgart 21
Dezember-Demonstration gegen Stuttgart 21

Würfel: Dabei handelt es sich um ein Kunstprojekt im öffentlichen Raum und eine Plattform für Ideen. Ein inhaltlicher Schwerpunkt liegt auf dem Thema prekäre Arbeitsbedingungen und bedingungsloses Grundeinkommen. Wir möchten Diskussionen quer durch die politischen Lager und gesellschaftlichen Schichten anregen. Hierzu haben wir für den Reichstag, das Brandenburger Tor und den Tiergarten eine temporäre Infrastruktur entwickelt.

Was ist eine solche Infrastruktur?

Landau: Die Grundidee ist eine Agora. Auf dem Pariser Platz vis à vis des Brandenburger Tores soll eine filigrane, achterbahnartige Architektur mit einer Diskussionsplattform, Ausstellungsräumen und einer permanent geöffneten, kostenlosen Teestube errichtet werden. Nach den geplanten 92 Tagen Programm kann diese Architektur auch andernorts wieder aufgebaut werden.

Würfel: Ein zweites Element ist ein acht mal acht Meter großer gläserner Kubus unmittelbar vor dem Reichstag. Er wird drei künstlerische Themenräume enthalten, unter anderem das »Büro für systemimmanente Fragestellungen«. Dort können Bürger Anträge an den Bundestag formulieren und durch ein Rohrpostsystem direkt in den Bundestag schicken.

Wie soll das funktionieren?

Würfel: Die Rohrpostleitung soll über die Außenfassade des Reichstagsgebäudes bis zur Kuppel hinaufführen und sich spiralförmig bis in den Plenarsaal senken. Aus ingenieurs- und sicherheitstechnischer Sicht ist das Vorhaben realisierbar und in ersten Ansätzen kalkuliert.

Welche Aussichten auf Realisierung hat das Projekt?

Landau: Es braucht einen langen Atem. Christo und Jeanne-Claude haben 25 Jahre daran gearbeitet, den Reichstag zu verhüllen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist das Projekt ein Konzept, das in den Köpfen stattfindet – und damit auch in der Realität.

Würfel: Wir haben ein Konzept-Buch produziert. Allen 622 Abgeordneten des Bundestags wollen wir ein Exemplar übergeben und hoffen, auf diesem Weg weiterzukommen. Unsere erste Anfrage leitete der Bundestagspräsident an die Beauftragte für Kunst und Kultur weiter. Die lehnte das Projekt ab. Wir sehen es aber nicht als ein »Kunst-Im-Bundestag-Projekt« an, sondern als ein Projekt im öffentlichen Raum, das den Bundestag temporär berührt.

Außerdem sind wir bei Demonstrationen präsent. Das gleichzeitig Wunderbare wie Tragische ist, dass unser Transparent überall passt. Die Forderung nach einem Neustart ist permanent aktuell.

Welche Macht hat so ein Kunstprojekt eigentlich? Läuft es nicht Gefahr, als zwar ganz hübsch, aber wenig wirkungsvoll abgetan zu werden?

Landau: Oft werden Kulturschaffende mit solchen Vorurteilen konfrontiert. Es heißt, Kunst sei nicht das geeignete Mittel für gesellschaftliche Veränderungen, sie diene immer den Interessen der Herrschaft. Diese Widersprüche zwischen Kunst und politischer Aktion ignorieren wir nicht. In unserem Konzept beziehen wir uns auf die Situationisten, die eine frühe Kritik der Arbeit formulierten und deren Einfluss auf die Ereignisse in Paris zwischen 1965 und 1968 nicht zu unterschätzen ist.

Kunst hat generell eine wichtige Funktion: Sie kann Sollbruchstellen aufzeigen, irritieren und andere gesellschaftliche Möglichkeiten als Experiment durchspielen. Die Kommunikation durch und über Kunst findet auf der Ebene der Intersubjektivität statt. Ich nehme die anderen als Subjekte wahr und bemerke zugleich, wie sie etwas sehen, während sie im selben Moment meine Wahrnehmung wahrnehmen. Unserer Meinung nach werden diese Aspekte in politischen Organisationsformen oft vernachlässigt.

www.froehlicher-untergrund.de[1]

Links:

  1. http://www.froehlicher-untergrund.de