Schönheit und Tod

Mit Virgilio Sienis »Tristi Tropici« endet die spielzeit’europa im Haus der Berliner Festspiele

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.
Rätselhafte Schönheit: Szene aus »Tristi Tropici«
Rätselhafte Schönheit: Szene aus »Tristi Tropici«

Nebel wallt durch den Saal im Haus der Berliner Festspiele. Auf mattem Lichtstreif und zu vibrierendem Dauerton flattert ganz vorn an der Rampe eine Gestalt in Schwarz. Keinen Haltepunkt kennt ihr Tanz, wie elektrisiert von Stromstößen aus dem Boden zuckt, renkt, robbt sie von links nach rechts. Etwas Blaues, das mittig im Weg liegt, umgeht sie. Unter Menschenlärm fällt jäh ein Zwischenvorhang, lässt einen nächsten mehr ahnen als erkennen.

Das Blaue hat weit hinten einer länglichen Wulst Platz gemacht: Arme und Beine ragen heraus, assoziieren Riese oder Wurm, der sich in schwach grünem Licht wälzt und ringelt. Flüstern und Geschrei wechseln einander ab. Zu Dauerschrillton erscheinen zwei rosa Schwingungen auf dem Vorhang, ehe auch der fällt. Tiefer wird der Raum, ist milchig trüb. Wenn zudem oft das Licht erlischt, nimmt man nurmehr fragmentarisch teil am Bühnengeschehen. Zwei Schemen stehen in der Tiefe der hell ausgeschlagenen Szene, heben nur die Hände, als stemmen sie sich gegen Widerstand, halten sich wie Zwillinge an der Hand gefasst.

Zwei Frauen hocken vorn, fast identisch, streifen unendlich langsam ockerfarbene Röcke ab, haben moderne Shorts darunter. Elektronisches Grummeln träufelt auf ihre skulpturale Bewegung. In den Zauberwald von Hänsel und Gretel fühlt man sich versetzt, wie die Frauen sich in diffusem Licht ängstlich zurückziehen. Der letzte verlöschende Scheinwerfer schluckt ihren Gang.

Ständig taucht Licht den Kubus der Szene in eine andere Farbe, als sei man in tropischem Ambiente. »Tristi Tropici«, das Gastspiel der Compagnia Virgilio Sieni aus Florenz, verhandelt in der Tat den Untergang einer Kultur, die zigtausend Jahre im Amazonasgebiet Bestand hatte. Anregung dafür boten Reisen zu den Ureinwohnern, die der französische Ethnologe und Anthropologe Claude Lévi-Strauss in der zweiten Hälfte der 1930er unternahm und 1955 im zivilisationskritischen Werk »Tristes Tropiques« beschrieb. Mit gleichsam literarischer Diktion beklagt er den Niedergang jener Naturvölker, wirbt für ihr Überleben. Wie aussichtslos dies Bemühen blieb, weiß man, und noch ist jener Sterbevorgang der Tradition weltweit in vollem Gang. Vor diesem Hintergrund deuten sich Bilder, die der italienische Choreograf zerdehnt langsam, mit der Ikonografie steinzeitlicher Felszeichnungen und wie aufflackernde Momente erdachte.

Gesichtslos wie lebende Schattenrisse tauchen Gestalten auf, tasten sich zu elektronischer Detonation durch den Dunst ihrer Geschichte, bäumen sich auf im Streit mit Widrigkeiten. Runde Platten zeigen sie, wie sie beim Begräbniszeremoniell verwendet wurden, auch die Raute als Vulva-Symbol und Zeichen weiblicher Fruchtbarkeit halten sie über ihren Köpfen: Fern nur hinter der letzten Gaze scheinen sie auf. Und es kommen wie aus dem Nichts weitere Frauen, alte wie Kinder, mit toten Kunstschafen über der Schulter. Was Damen der »Gesellschaft« gegen Winterkälte umlegen, meint hier den Todeskampf der Natur.

Auch die Kehlen der Tänzerinnen leuchten wie blutig durchschnitten auf. Die Alte kann nach langem, aberwitzig verrenkt tobendem Aufbäumsolo einer Jungen deren Tod nicht verhindern. Aus dem Saal streift an der Holzwand entlang eine blinde Tänzerin auf die Bühne, wirkt im schwarzen Kleid wie ein Fremdköper unter den archaischen Wesen, geht zu Boden. Zwei silbrige Urvögel mit langem Hals und Spitzschnabel picken auf ihr herum, bis auch sie nah am Zuschauer zu Boden sinken. Nach tuschartigem Klang und letztem Aufflammen des Lichts senkt sich Dunkel über die Szene.

Die Zivilisation mag gewonnen haben, die Welt aber hat grandios verloren. Dies ist das Resümee der in 65 Minuten gepressten Odyssee einer amazonischen Familie ohne Männer, rätselvoll und deshalb so faszinierend zu sehen, bildgewaltig und mit zeitgenössischem Tanz in ganz freier Erfindung. Anstrengend auch, weil das Thema jede Gefälligkeit ausschließt.

Sieben Gastspielen bot die spielzeit’europa diesmal ein Podium, so Krzysztof Warlikowskis Tennessee-Williams-Adaption »Un Tramway« sowie, im Tanz, Sasha Waltz, Angelin Preljocaj, Sidi Larbi Cherkaoui, Shen Wei. Über 90 Prozent Auslastung und rege Debatten nach den Vorstellungen kennzeichnen einen erfolgreichen Jahrgang.

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