Heute, Kinder, wird's was geben

Im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt erlebten Kinder aus sozial schwachem Umfeld eine Märchenoper

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.
Dornröschen schläft: Norma Nahoun, Judith Löser und Martin Schubach
Dornröschen schläft: Norma Nahoun, Judith Löser und Martin Schubach

Angelika* hat sich für diesen Nachmittag hübsch angezogen. So sensationell wie das Kleid von Dörnröschen vorn auf der Bühne ist ihr Outfit natürlich nicht, aber inzwischen träumt sie auch nicht mehr davon, einmal selbst solch ein Kleid zu besitzen. Sie ist nun schon neun Jahre alt, und die Prinzessinnen in der Schule tragen keine Chiffonroben, sondern – Lederjacken. Also träumt Angelika von einer Lederjacke. Läge eine für sie unterm Weihnachtsbaum, vielleicht würden sich die anderen Mädchen dann nicht mehr über sie lustig machen. Ob ihr die Eltern den Traum erfüllen? Angelika weiß, dass sie das möchten. Doch werden sie es hinkriegen? Wahrscheinlich nicht.

21. Dezember 2010, Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt. Kinder aus sogenannten sozial schwachen Familien dürfen eine Märchenoper erleben. Neben Angelika sitzen Julius, Martin und Torsten. Sie verdanken es Frau Richter von der Kindertafel Erkner, dass sie, ihre Mütter oder Omas zur vorweihnachtlichen Gala eingeladen wurden. Diese Gala, von der Stiftung »Zukunft Konzerthaus« organisiert, findet bereits zum fünften Mal statt. Schirmherrin in diesem Jahr ist Bettina Wulff, die junge Frau des Bundespräsidenten. Mit ihrem langen goldenen Haar sieht sie fast wie die gute Fee aus, die auf der Bühne gerade verspricht, dass Dornröschen, wenn es sich an der Spindel sticht, nicht tot umfällt, sondern nur hundert Jahre schläft. Fast hätten Angelika, Julius, Martin und Torsten Bettina Wulff vor einigen Wochen kennengelernt, bei einer Pressekonferenz, wo sie mit ihr und der guten Fee fotografiert werden sollten. Daraus ist dann nichts geworden, weil Bettina Wulff plötzlich krank wurde. Jetzt ist sie wieder gesund, aber leider ist ihr Terminkalender so voll, dass sie nun auch auf die Gala verzichten muss. Schade, sie versäumt etwas.

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Die Kinder aus »sozial schwachen« Familien kommen aus verschiedenen Einrichtungen, in denen sie aus verschiedenen Gründen betreut werden, zum Beispiel, weil sie an sozialen Brennpunkten wohnen. Wer von der Kindertafel Erkner kommt, ist aber nicht nur irgendwie arm dran, sondern richtig arm. Angelika weiß schon, was das bedeutet, Julius, Martin und Torsten wissen es noch nicht. Was unter anderem daran liegt, dass arme Kinder in unserem Land nicht hungern und ihre Eltern sie nicht wie Hänsel und Gretel in den Wald jagen müssen. Es liegt aber auch daran, dass Julius, Martin und Torsten noch ziemlich kleine Jungen sind und kleine Jungen noch kleine Wünsche haben. An gelegentlich einem Stück Kuchen oder Schokolade mangelt es ihnen nicht, dafür gibt es Frau Richter und die Tafel. Dass sie mehrmals in der Woche die Tafel besuchen, ist für sie so selbstverständlich, wie abends ins Bett zu gehen und morgens wieder aufzustehen. Selbst ein Playmobil, ein Nintendo oder ein Lego-Baukasten könnten zu Weihnachten für sie drin sein, mehr aber nicht. Das ist nicht grausam, sondern vernünftig.

Mit der Kindertafel wachsen Angelika, Julius, Martin und Torsten auf, weil ihre Familien gezwungen sind, zur Erwachsenen-Tafel zu gehen und für ein Playmobil, einen Nintendo oder einen Lego-Baukasten lange und eisern zu sparen. Wenn hier von »Familien« die Rede ist, dann trifft es das nicht ganz: Lediglich Angelika hat das Glück, zu Hause eine Mutter und einen Vater zu haben. Ihre Eltern lieben sie heftig und haben sich geschworen, »Angelika nie, niemals in ein Heim zu geben«. Genau das ist nämlich einst Angelikas Mutter widerfahren, deren Eltern Trinker waren.

Geliebt werden auch Julius, Martin und Torsten, allerdings vor allem von ihrer Mutter beziehungsweise der Oma. Julius und Martin sind Brüder, zwei von insgesamt sechs Geschwistern, von denen drei schon erwachsen sind – die Väter stehen nicht zur Verfügung. Torsten wird bei der Oma groß: Seiner Mutter liegt nichts an ihm, der Vater trägt Zeitungen aus, muss deshalb mitten in der Nacht aus dem Bett und ist dann den ganzen Tag über müde. Er führt ein müdes Leben.

Davon, dass sie an diesem 21. Dezember im Konzerthaus am Berliner Gedarmenmarkt sein dürfen, sind Angelika, Julius, Martin und Torsten begeistert. Allein die Fahrt mit der S-Bahn von Erkner in die Hauptstadt war für sie ein Riesenerlebnis: Geld für Fahrkarten sitzt in ihren »Familien« nicht unbedingt locker, es ist, schlicht gesagt, nicht da. Dabei war Torstens Oma dreißig Jahre lang S-Bahnfahrerin, »der erste weibliche Hauptlokomotivführer« in der DDR. Bis 1961 fuhr die »rote Rita«, wie man sie nannte, alle Strecken, drei Mal »fiel« ihr jemand vor den Zug – sie hat es überlebt. Torstens Oma ist überhaupt eine Überlebenskünstlerin: Als sie nach der Wende entlassen wurde, hat sie sich zunächst mit einem Imbiss selbstständig gemacht, dann beim Winterdienst gearbeitet, danach, wie heute ihr Sohn, Zeitungen ausgetragen. Jetzt ist sie 69 und findet es gut, dass ihr Enkel von der Tafel »ein bisschen an die Kultur herangeführt« wird. Sie selbst war früher oft im Theater, im »Metropol« und in der »Diestel«, weshalb sie, wenn die Tafel Weihnachten feiert, das Kulturprogramm mit bestreitet: In diesem Jahr hat sie ein Gedicht von Erich Kästner vorgetragen: »Morgen, Kinder, wird's nichts geben ...« Das stimmt insofern nicht, als auch ihr Enkel Torsten am Heiligen Abend nicht leer ausgehen wird. Nach dem Fest allerdings wird der Vers wieder zutreffen.

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Das Spiel auf der Bühne nimmt seinen Lauf. Die Kinder sind mucksmäuschenstill und wagen kaum zu atmen. Die Welt, in die sie entführt werden, ist voller Geheimnisse. Ein Märchenwald, in dem die Bäume die Farben wechseln – genauso wie richtige Bäume im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Aber diese hier leuchten von innen – blutrot, giftgrün, gallegelb, nachtblau – und machen beklommen, ängstlich, fröhlich. An der Ausstattung wurde nicht gegeizt, gezeigt wird kein Sparprogramm, denn bald, Kinder, ist Weihnachten.

Jetzt küsst der Prinz Dornröschen wach. Bei allem Zauber: Julius' und Martins Mutti kann ein Kichern nicht unterdrücken. Klar, auch sie hat an Prinzen geglaubt, schließlich gehören Märchen seit altersher zu unserer seelischen Grundausstattung. Die Wirklichkeit sieht anders aus, zumindest ihre. Sie arbeitet halbtags als Erzieherin, mehr ist ihr als Alleinerziehende mit drei kleinen Kindern nicht möglich. So muss sie mit Hartz-IV »aufstocken«. Gern sagt sie: »Die Kinder sind mein Reichtum.« Und: »Für sie gebe ich mein letztes Hemd.« Oft reicht das letzte Hemd nicht. Wenn ihre drei Großen je einen Zehner dazulegen, werden die Kleinen auf dem Gabentisch das vorfinden, was sie sich gewünscht haben. Aber für neue, funktionstüchtige Fahrräder, welche die Jungen dringend brauchen, um in die Kita oder zur Schule fahren zu können, hat sie kein Geld. Sie überlegt, sich deswegen an »Radio Teddy« zu wenden. Wer arm ist, darf sich nicht schämen zu bitten.

Frau Richter, die die Tafel leitet und den Besuch im Konzerthaus organisiert hat, sitzt nicht mit im Zuschauerraum. Sie sitzt im Flugzeug nach Ägypten, wo sie mit ihrem Mann über Weihnachten Urlaub machen will. Den Urlaub hat sie sich verdient, den Mann ebenso, finden die Frauen. Da sie Frau Richter im Laufe der Jahre kennengelernt haben, wissen sie: »Roswitha« ist eine von ihnen. Auch sie hatte kein leichtes Leben: Sie war Kellnerin, hat einen Sohn verloren, eine Scheidung hinter sich, war nach der Wende auf sich allein gestellt, verkaufte Amway-Produkte, verpackte Merci-Pralinen. Allerdings hatte sie das Glück, einen neuen, verlässlichen Partner zu finden. Als sie in den Sozialmärkten der Gesellschaft für Arbeit und Sozialrecht anfing, war das ehrenamtlich. Vor vier Jahren dann bestanden die Märkte den Tafel-TÜV, und heute ist Roswitha Richter für vier Tafeln verantwortlich: für die in Fürstenwalde, Beeskow, Storkow und Erkner. Die Frauen sind überzeugt davon, dass diese Tafeln ohne »Roswitha« nicht das wären, was sie sind: etwas Besonderes. Immer sei sie auf der Jagd nach Sponsoren – für eine Kutschfahrt mit den Kindern, den Bus für die Fahrt ins Puppentheater, ein Geburtstagsfest, die Oster- oder Weihnachtsfeier. Kein Laden, kein Unternehmen, kein Supermarkt im Umkreis sei vor »Roswitha« sicher. Vor allem: Wer ihre Tafeln besuche, müsse nicht wie anderswo auf der Straße Schlange stehen, und man bekomme keine fertigen Tüten gepackt – man könne, was man möchte, selbst auswählen. Das habe einen praktischen Grund: Bekäme man, was man nicht möchte oder brauche, würde man es wegwerfen. Dass man nichts wegwirft, haben Angelika, Julius, Martin und Torsten schon gelernt.

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Das Licht im Saal flammt wieder auf. Die Kinder sind noch ganz berauscht vom glücklichen Ausgang der Geschichte, den farbenprächtigen Kostümen. Das Ensemble, in Spiellaune, hat sich große Mühe gegeben. Angelika ließ sich vor allem von der Musik gefangennehmen: Sie singt gern. Erst kürzlich ist ihr Chor beim Anglerverein Erkner aufgetreten. Das Mädchen hat viele Talente: Sie ist gut in Deutsch und Mathe. Ihre Mutter sagt: »Wir helfen Angelika, so gut wir können.« Sie können es möglicherweise nicht so gut wie andere Eltern, aber im Gegensatz zu manchen anderen Eltern versuchen sie es wenigstens. Noch hat Angelika keine Ahnung, dass sie ihre Lederjacke bekommen wird: Ihre Mutter hat einen Laden gefunden, wo sie billig kaufen kann. Sie sagt »preiswert«: Die Tochter soll nichts Billiges tragen. Später möchte Angelika Bankkauffrau oder Tierpflegerin werden. Oder Opernsängerin? Die Wahl überlassen die Eltern ihr. Hauptsache: Angelika wird glücklich.

Vor der Gala wurde gefeiert, mit Pfefferkuchen und Kinderpunsch. Lange Tafeln, gleißende Lüster, ein fünf Meter hoher Weihnachts- baum ... Angelika, Julius, Martin und Torsten fühlten sich verwöhnt. Und wichtig. Ein Gefühl, das ihnen nicht verlorengehen darf. Zu Fotos für die Presse kam es dann doch noch – mit dem Weihnachtsmann. Schön, wenn man noch an ihn glaubt.

*Die Namen der Kinder sind geändert.

Weihnachten bei der Kindertafel Erkner, rechts Roswitha Richter
Weihnachten bei der Kindertafel Erkner, rechts Roswitha Richter
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