Alles umsonst und nichts vergeblich

Gemeinschaft gegenseitiger Hilfe und Gratisökonomie: Seit über zehn Jahren gibt es den Umsonst-Laden in Hamburg

  • Susann Witt-Stahl
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Hamburger Arbeitskreis Lokale Ökonomie begegnet der Absurdität der Warengesellschaft mit praktischer Kritik: Er organisiert eine Projektgemeinschaft für gegenseitige Hilfe. In seinem Umsonst-Laden gibt es nützliche Dinge für lau – und im Sonderangebot die Erkenntnis, dass Qualität keinen Preis haben muss. Hilmar Kunath ist Gründungsmitglied des Ladens mit Kleinmöbellager. / www.ak-loek.de
Der Hamburger Arbeitskreis Lokale Ökonomie begegnet der Absurdität der Warengesellschaft mit praktischer Kritik: Er organisiert eine Projektgemeinschaft für gegenseitige Hilfe. In seinem Umsonst-Laden gibt es nützliche Dinge für lau – und im Sonderangebot die Erkenntnis, dass Qualität keinen Preis haben muss. Hilmar Kunath ist Gründungsmitglied des Ladens mit Kleinmöbellager. / www.ak-loek.de

Mit dicken Schals vermummte Menschen tragen vollgepackte Kisten und Taschen aus der Winterkälte in den gut beheizten Eckladen hinein – oder auch hinaus. In der Hamburger Stresemannstraße 150, direkt am Altonaer Holstenbahnhof, ist das Treiben in der Vorweihnachtszeit fast so geschäftig wie im Edeka-Laden vis-à-vis.

Aber da gibt es einen Unterschied – und zwar ums Ganze: Der Laden ist kein herkömmliches Geschäft, sondern ein für jedermann zugängliches Lager. Denn hier gibt es nur nützliche Dinge mit Gebrauchswert, keine Waren mit Tauschwert. Wer etwas nimmt, muss nichts dafür geben. Statt einer Kasse findet sich am Ausgang nur ein Teller für freiwillige Spenden. Ladendiebstahl ist unmöglich: Wer Kleidung, Bücher, Haushaltsgegenstände und andere Sachen ohne Bezahlung einsteckt, geht nicht nur straffrei aus – er ist auch willkommen: Vom Obdachlosen, der seinen Schlafplatz an den Landungsbrücken hat, bis zum Designer aus der chicen HafenCity.

In einem Refugium freien Wirtschaftens, umzingelt von totalitärer Ökonomie, in der sich nur Waren, aber nicht Menschen ungehindert bewegen können, fällt die Orientierung zuweilen schwer: »Bitte nicht mitnehmen! Das gehört zum Laden«, erklärt Kollektiv-Mitglied Ilka einer Nutzerin, die gerade ein Regal heraustragen will. Hier ist zwar alles umsonst, aber nur fast alles zu haben.

Ihre dreijährige Tochter Jula huldigt gerade den paradiesischen Zuständen in einem Raum mit Spielzeug. Und so findet die Sozialpädagogin Ilka, seit zehn Jahren im Umsonst-Laden aktiv, einen Moment Ruhe. Überraschendes berichtet sie aus der im April eröffneten Filiale im Gängeviertel in der piekfeinen Hamburger Innenstadt: »Zu unserem Umsonst-Kiosk kommen auch Mitarbeiter des Axel-Springer-Verlags.«

Reparaturen machen Schrott wieder flott

Das Projekt ging 1999 aus dem rund zwanzigköpfigen Gesprächskreis Lokale Ökonomie hervor, der ein »Grundlagenpapier für eine selbstbestimmte Wirtschaftsweise ohne geschlossenes Weltbild« verfasste, erinnert sich der Gründer Hilmar Kunath. Es war der erste Umsonst-Laden in Deutschland und Österreich. Mittlerweile gibt es mehr als 50.

Die rund 30 Hamburger Aktiven sind eine wilde Mischung aus Leuten aller Altersstufen, mit und ohne linker Sozialisation, Erwerbslosen und Erwerbstätigen. »Das ist uns wichtig, denn wir wollen die Lohnarbeit aus beiden Perspektiven kritisieren«, erklärt Kunath. »Unter dem Druck, Lohnarbeit leisten zu müssten, fühlen sich die Menschen dauernd getrieben. Wer Arbeit hat, ist nicht glücklich, und wer keine hat, auch nicht, weil er unter ständiger Geldknappheit leidet.«

Mit einem Laden im benachbarten Ottensen auf nur 50 Quadratmetern Fläche startete das Experiment Mikrokommunismus – jenseits des Trugs und Betrugs der Warenwelt. »Einen Monat später hatten wir bereits einen lebendigen Betrieb während der damals zwei mal zwei Stunden, die wir pro Woche geöffnet hatten.«

Schon bald herrschte Platzmangel. Erst 2003, nach dem Umzug nach Altona Nord, konnte das Projekt erweitert werden. Hinzu kam ein jährliches Umsonst-Fest mit Live-Musik und ein Kleinmöbellager, in dem »Schöner Wohnen« für eine kleine Spende zu haben ist.

Neu ist eine Reparaturwerkstatt, in der Hilfe zur Selbsthilfe geboten wird, wenn der gute alte Plattenspieler vor dem Müllcontainer bewahrt werden soll. Aber Hilmar Kunath geht es um mehr: »Reparaturen sind für uns eine wichtige Brücke, um uns der Produktion zu nähern« – der Domäne der happy few (glückliche, reiche Minderheit), die wesentlich mehr besitzt als nur ihre Arbeitskraft.

Dem Ideologem Mode, das Nützliches als veraltet oder gar als Abfall diffamiert und die sozialdarwinistische Praxis des Kapitalismus verschleiert, arbeitet der Arbeitskreis Lokale Ökonomie »liebevoll entgegen«, wie Kunath sagt. »Schrott wird flott«, lautet dann auch das Motto der Fahrrad-Selbsthilfe-Werkstatt, die ebenfalls zur Projektgemeinschaft gehört.

Ihre Grundlage sei in den 1980er Jahren zu suchen, berichtet der 61-jährige Gymnasiallehrer. »Ich dachte mir recht früh, dass die Dauererwerbslosigkeit in unserer Gesellschaft bleiben wird.« Diese Misere reflektierend, entwickelte Kunath ein lebensnahes Konzept: »Menschen, die noch genügend Initiativkraft haben, schließen sich in den Stadtteilen zu einem Bündel von Mitmachprojekten zusammen, um Erfahrungsräume zu schaffen, in die die Zwänge der Erwerbstätigkeit nicht durchschlagen.«

Der Treibstoff dieser Gemeinschaften ist nicht Barmherzigkeit, sondern das Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Je mehr die Ware-Geld-Beziehung die Gesellschaft durchdringt, desto rigoroser werden traditionell solidarische Strukturen aufgelöst. Was im 19. Jahrhundert der kommunistische Anarchist Peter Kropotkin als wesentlichen Fortschrittsmotor für die Tierwelt wie für die menschliche Gesellschaft erkannt hatte: in der spätbürgerlichen Gesellschaft ist Solidarität als Lebenspraxis nur noch in der Familie und im engsten Freundeskreis zu finden. Selbst dort gibt es im Zuge des Sozialabbaus, der Privatisierung, Deregulierung und antikollektivistischen Ideologie des Neoliberalismus Auflösungstendenzen.

Der »Masterplan« von Kunath und Genossen sieht weder Mildtätigkeit noch Almosen vor. Wer mitarbeitet, soll auch praktischen Nutzen aus den Projekten ziehen – der Umsonstladen ist nicht zuletzt ein Selbstbedienungsladen. »Er dient der Organisation gegenseitiger Hilfe in unserer Gemeinschaft«, so Kunath, »und der praktischen Kritik des allgewaltigen Wertcharakters unserer Produktions- und Verteilungsweise.«

Im wahrsten Sinne des Wortes: gemeinnützig

Der Laden funktioniert eigentlich ganz simpel: Die Dinge werden bloß als nützliche behandelt. Entgegengenommen wird alles, was nicht verderblich, verschmutzt, unbrauchbar oder gefährlich ist. Die gezielte Suche befördere den ungeheuren Reichtum von Dingen des alltäglichen Bedarfs zutage, die ungenutzt herumliegen, berichtet Kunath und verweist auf ein wachsendes ökologisches Problem: Natürliche Ressourcen werden massenhaft verpulvert für die ständige Neuproduktion von Waren – »nicht etwa, um Bedürfnisse zu befriedigen, sondern weil das Geld, das sich als Kapital verwerten muss, darauf drängt, dass immer mehr gekauft wird«.

Im Gegensatz zum freien Markt mit seinem zerstörerischen Chaos kommt wahrhaft freie Ökonomie nicht ohne vernünftige Planung aus. In einem Laden, in dem alle Güter umsonst, die kollektive Arbeit der Betreiber aber niemals vergeblich sein soll, sind gesellschaftliche Verkehrsregeln nötig: Allzu ausgeprägter Mitnehmer-Mentalität werden Grenzen gesetzt. Die Nutzer dürfen pro Besuch maximal drei Sachen mitnehmen – wenn Überfluss herrscht, auch mal mehr. »Wir sind mit den Dingen nicht verheiratet«, sagt Kunath lächelnd. Wer sie allerdings auf dem Flohmarkt in klingende Münze verwandelt, bekomme ein halbes Jahr Hausverbot. Wer alkoholisiert ist, muss draußen bleiben. »Und kostenlose Sozialbetreuung mit Kaffee und Kuchen ist nicht drin.«

Auch die Aktiven haben sich Spielregeln gegeben: Sie bestimmen zwar Volumen – manche kommen fast täglich, andere zweimal monatlich – und Lage ihrer Arbeitszeit selbst, müssen sich aber auf dem monatlichen Projektgruppentreffen verbindlich in die Schichtpläne eintragen.

Der Laden erwirtschaftet grundsätzlich keine Profite, staatliche Unterstützung gibt es nicht. Wie decken die Aktiven die Miet- und alle anderen laufenden Kosten? »Nur aus eigener Kraft«, versichert Hilmar Kunath. »Das heißt, wir kaufen nur auf dem Warenmarkt, was wir durch Spenden und Mitgliedsbeiträge bezahlen können.«

Leichter gesagt als getan: Das Wohnungsunternehmen SAGA, Eigentümerin aller Räume, die die Projektgemeinschaft nutzt, hat die Miete für den Umsonst-Laden erhöht, berichtet Angela, früher Nutzerin, seit 2003 im Aktivenkreis. Die 47-jährige Deutschlehrerin, die in Teilzeit in der Erwachsenenbildung arbeitet und ergänzend ALG II erhält, fürchtet weitere Mietsteigerungen.

Ans Aufgeben denkt sie aber nicht. »Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes gemeinnützig«, nennt sie eine besondere Qualität des Ladens, der von keinem seiner Besucher einen Bedürftigkeitsnachweis verlangt. Lockt das nicht Armutstouristen mit Schlips und Kragen an? »Aber nein«, antwortet Angela scherzend, »die meisten Leute, die hierher mit Schlips und Kragen kommen, haben meist beides von uns.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal