»Manfred, schlag mal ein bisschen Krach!«

Das bewegte Leben des Paul Oestreicher – ein deutscher Jude, der Priester wurde, um Politiker zu sein

  • Gabriel Rath, London
  • Lesedauer: 7 Min.
Paul Oestreicher Jüdischer Flüchtling aus Deutschland, anglikanischer Priester, Sozialist und Vorsitzender von Amnesty International in Großbritannien – der heute 79-jährige Paul Oestreicher hat viele Leben. 77 mal besuchte er die DDR – und verlor die Hoffnung auf die Erneuerbarkeit des »real existierenden Sozialismus«: »Wir brauchen eine Ordnung des Zusammenlebens, aber es geht darum, sie so anzulegen, dass sie menschlich bleibt.« Fotos: privat
Paul Oestreicher Jüdischer Flüchtling aus Deutschland, anglikanischer Priester, Sozialist und Vorsitzender von Amnesty International in Großbritannien – der heute 79-jährige Paul Oestreicher hat viele Leben. 77 mal besuchte er die DDR – und verlor die Hoffnung auf die Erneuerbarkeit des »real existierenden Sozialismus«: »Wir brauchen eine Ordnung des Zusammenlebens, aber es geht darum, sie so anzulegen, dass sie menschlich bleibt.« Fotos: privat

Neben der Musikanlage in der geräumigen und hellen Wohnung Paul Oestreichers im südenglischen Brighton liegt die CD mit der Musik zum Film »The War Symphonies: Shostakovich Against Stalin«. In der Dokumentation geht es um das Ringen des Komponisten mit dem diktatorischen Regime in der Sowjetunion. Die Tyranneien des 20. Jahrhunderts haben auch das Leben des heute 79-jährigen Paul Oestreicher geprägt.

Flüchtling aus Nazi-Deutschland, Ostkirchenreferent der anglikanischen Kirche, Vorsitzender von Amnesty International in Großbritannien und führender Kämpfer gegen die Apartheid – das sind nur einige Stationen seines bewegten Lebens. »Frieden und Menschenrechte, das sind die Themen meines Lebens«, sagt Oestreicher im Gespräch. »Die beiden beißen sich manchmal, aber für mich sind sie untrennbar verbunden.«

Ebenso untrennbar miteinander verbunden sind für ihn Christentum und Sozialismus: »Ich bin Sozialist, weil ich Christ bin. Aber wenn ich kein Christ wäre, würde ich nicht aufhören, Sozialist zu sein«, sagt er. »Wahres Christentum ist immer ein sozialistischer Begriff. Die ganze Bibel spricht von der ethischen Verantwortung, unsere Güter gerecht zu verteilen. Dass die Rechten den Glauben für sich beanspruchen, ist eine völlige Entstellung.« Dagegen meint Oestreicher: »Christentum heißt menschlich leben. Das bedeutet, den Menschen in seiner Würde zu achten. Der Kapitalismus hingegen entwürdigt den Menschen.«

»Du musst Hitler wiedergutmachen«

Die Wurzeln für sein Weltbild und sein lebenslanges Engagement führt Paul Oestreicher auf seinen Vater zurück. »Er hat immer zu mir gesagt: Du musst wie Hitler werden, aber umgekehrt: Was der Böses getan hat, musst du Gutes tun. Das war natürlich Wahnsinn. Aber es hat mich doch geprägt.«

Pauls Vater stammte aus dem jüdischen Großbürgertum Deutschlands. »Er wuchs völlig säkularisiert, ohne Religion auf und war bis in die Knochen deutsch-national«, sagt sein Sohn. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war er 18 Jahre alt und »meldete sich selbstverständlich und mit Begeisterung zur Truppe«. Nach der Niederlage im Krieg sei der Vater »bitter enttäuscht gewesen, nicht anders als Adolf Hitler«. Doch anders als der österreichische Gefreite wandelte sich Vater Oestreicher durch die Erfahrung von Inflation und Zusammenbruch zu einem »liberalen Pazifisten«.

Als Paul Oestreicher am 29. September 1931 in Meiningen in Südthüringen zur Welt kam, war sein Vater ein angesehener Kinderarzt, seine Mutter Kammersängerin am örtlichen Stadttheater. Zu diesem Zeitpunkt war der Vater bereits tief religiös und in der evangelischen Kirche aktiv. Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 »begann sofort die Ausgrenzung«. Die Mutter, die ob ihres musikalischen Talents einst vom Herzog von Sachsen-Meiningen persönlich gefördert worden war, durfte plötzlich nicht mehr öffentlich auftreten. Der Vater konnte nur mehr mit Sondergenehmigung praktizieren. »Er hatte das Eiserne Kreuz aus dem Ersten Weltkrieg.« Und auch Paul lernte schon in frühen Jahren die Ausgrenzung schmerzhaft kennen: »Als ich zwischen vier und sechs Jahren alt war, war ich fast nur mit Erwachsenen zusammen. Die meisten Eltern wollten nicht, dass ihre Kinder mit einem Judenkind spielen.«

Als der Vater 1938 Praxisverbot erhielt und »man uns buchstäblich aus unserem Haus geschmissen hat«, fand die Familie zunächst bei einem Priester in Eisenach Zuflucht, später versteckte sie sich im Berliner Untergrund. Drei Monate vor Kriegsausbruch 1939 gelang die Flucht nach Neuseeland, doch Pauls geliebte Großmutter blieb zurück. »Wir hatten gehofft, dass sie nachreisen wird. 1941 beging sie vor der Deportation Selbstmord.«

Paul Oestreichers Onkel hingegen war in den 20er Jahren als Arbeitsloser in die NSDAP eingetreten und machte danach in der Partei und später auch in der SS unter Ernst-Wilhelm Bohle, dem Leiter der NSDAP-Auslandsorganisation, steile Karriere. Oestreicher lakonisch dazu: »Eine deutsche Familie«. Nach dem Krieg geriet der Onkel zunächst in sowjetische Kriegsgefangenschaft, setzte sich nach der Freilassung nach Westberlin ab und meldete sich als »Opfer des Kommunismus«. Später fand er mit Hilfe alter Kameraden in München Zuflucht. Als junger Mann suchte Oestreicher den Kontakt zu seinem Onkel, doch: »Er blieb ein unverbesserlicher Faschist. Bis zu seinem Tod.«

Zum Zeitpunkt dieser Begegnung war Paul bereits ein junger Mann. Seine Eltern beschlossen nach dem Krieg, in Neuseeland zu bleiben. »Mein Vater wäre wohl einer der wenigen Juden gewesen, die nach Deutschland zurückgekehrt wären, denn er sagte immer: Wir sind das andere Deutschland. Doch meine Mutter sagte: Nach allem, was passiert ist, kann ich nicht mehr in Deutschland leben.«

Im Banne Helmut Gollwitzers

Paul studierte zunächst Politikwissenschaften. Mit einem Stipendium kam er an die Universität Bonn, wo er Helmut Gollwitzer kennen lernte und in dessen Bann geriet: »Ich war schon in Neuseeland ein sehr aktiver anglikanischer Christ. Nun entschloss ich mich, nicht Politiker oder Diplomat zu werden, sondern ein politischer Priester.«

Oestreicher wurde Priester, um Politiker zu werden. Und darin fand er die Erfüllung seines Lebens. Dafür ging er nach Lincoln (Großbritannien), um Theologie zu studieren.

An der Universität lernte er seine erste, aus Berlin stammende Frau kennen. Aus der Ehe stammen drei heute erwachsene Kinder. Ein viertes, adoptiertes Kind starb in jungen Jahren. 1960 wurde Paul Oestreicher zum anglikanischen Priester geweiht und Seelsorger in einem verarmten Arbeiterbezirk im Londoner East End. »Der Priester, dem ich zugeordnet wurde, war ein waschechter Kommunist, eine Zeit lang sogar Parteimitglied.«

In den nächsten Jahren entwickelte Oestreicher eine Vielzahl von Aktivitäten, so engagierte er sich bei der britischen Campaign for Nuclear Disarmament, der Menschenrechtsorganisation Amnesty International und in der Anti-Apartheid-Bewegung. »Den Fall der Berliner Mauer 1989 erlebte ich am Fernsehschirm von Desmond Tutu, dem südafrikanischen Friedensnobelpreisträger.« Später bemüht er sich in Coventry, wo er 1985 bis 1997 Domkapitular war, und Dresden – zwei im Zweiten Weltkrieg durch Bombardements besonders gezeichnete Städte – um Versöhnung und Verständigung.

Vor dem Hintergrund seiner pazifistischen Grundhaltung und seines lebenslangen Bemühens um Versöhnung verwundert, dass Oestreicher ein geplantes Denkmal für die britischen Bombermannschaften in London ausdrücklich verteidigt. Das Mahnmal sei »nicht gegen Deutschland gerichtet«, sondern vielmehr eine überfällige Anerkennung für die britischen Einheiten, sagt er: »Sie wurden nach dem Krieg schäbig behandelt, denn man wollte sich nicht an die Verwüstungen des Bombenkriegs erinnern.«

Doch Oestreicher zieht daraus eine weiterreichende Lehre: »Wir müssen dahin gelangen, jeden Krieg zu ächten. Wie wir den individuellen Mord unter schwerste Strafe stellen, muss auch das staatlich organisierte Morden verboten und bestraft werden.« Dafür engagiert er sich heute in der »Kampagne für die Abschaffung des Krieges«. Oestreicher: »Es wird vermutlich meine letzte Aktivität dieser Art sein, aber für das Überleben müssen wir diesen Bewusstseinswandel schaffen.«

Als Ostkirchenbeauftragter der Anglikanischen Kirche hielt Oestreicher in den 60er Jahren engen Kontakt mit offiziellen Stellen ebenso wie mit Dissidenten: »Ich war der einzige westliche Besucher bei Jiri Hajek«, dem Außenminister des Prager Frühlings, »als er unter Hausarrest stand.« Seine Zuständigkeit war groß. »Meine Gemeinde reichte von Ost-Berlin bis Wladiwostok.«

Oestreicher hatte mit der Niederschlagung der Reformen in der CSSR 1968 die Hoffnung auf die Erneuerbarkeit des »real existierenden« Sozialismus verloren: »Ein System, das nicht mehr an sich selbst glaubt, hat keine Zukunft.« Wie das Christentum habe auch der Sozialismus »Institutionen geschaffen, die oft das Gegenteil dessen waren, was ihr Ursprung eigentlich hätte bedeuten müssen«, meint Oestreicher. »Wir brauchen eine Ordnung des Zusammenlebens, aber es geht darum, sie so anzulegen, dass sie menschlich bleibt.«

Stolpes »Verdienst: die zweite Frau

Vom Beginn seiner Tätigkeit als Ostbeauftragter bis zum Ende der DDR besuchte Oestreicher den ostdeutschen Staat gezählte 77 Mal. Er verhandelte die Ausreise der Oppositionellen Bärbel Bohley, Werner Fischer und Vera Wollenberger, er kannte Funktionäre wie die Staatssekretäre für Kirchenfragen Hans Seigewasser (»Ein Kommunist, den ich respektieren konnte«) und Klaus Gysi (»Ein Schlawiner«), auch Manfred Stolpe aus der Leitung der evangelischen Kirche in der DDR.

Die Bekanntschaft mit Stolpe sollte für Oestreichers Leben noch besondere Bedeutung erlangen: Als im Dezember 1983 die neuseeländische Staatsbürgerin Barbara Einhorn – Tochter jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und Soziologin an der University of Sussex in Brighton – in der DDR beim Kontakt mit Dissidentinnen festgenommen worden war, wandte sich die Universität an Oestreicher als Amnesty-Vorsitzenden mit der Bitte um Hilfe. Der griff zum Telefon und verlangte: »Manfred, finde doch raus, wo diese Dozentin ist, und schlag mal ein bisschen Krach!« Wenige Tage später war Barbara Einhorn frei. Heute ist sie mit Paul Oestreicher verheiratet.

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