Integration hat Vorrang

Das Eine-Welt-Haus Magdeburg - ein Ort internationaler Begegnung

  • Andreas Schug
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.

Das Magdeburger Eine-Welt-Haus widmet sich vor allem lokalen Integrationsprojekten. Schwerpunkt ist die interkulturelle Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Der »Herrentag« im Mai 1994 brachte Magdeburg schlechte Schlagzeilen. Rund 60 Neonazis jagten mehrere Schwarzafrikaner stundenlang durch die Straßen, während die Polizei ihnen in der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt freien Lauf ließ. Mehrere Angegriffene wurden schwer verletzt. Die rassistischen Ausschreitungen waren für einige Freundschaftsgesellschaften und entwicklungspolitische Gruppen der Anlass, sich zusammenzuschließen. Gefördert von Politikern, die wohl auch um den Ruf Magdeburgs besorgt waren, wurde nach einigem Hin und Her Mitte Dezember 1995 die Auslandsgesellschaft Sachsen-Anhalt e.V. (AGSA) gegründet, die Trägerin des Eine-Welt-Hauses ist. Sie setzt sich derzeit aus 23 verschiedenen Organisationen zusammen. In dem dreistöckigen Gebäude, das der AGSA vom Land zur Verfügung gestellt wurde, haben heute 12 Gruppen und Vereine ihre Büros, über 80 nutzen die Infrastruktur wie Kino, Tagungs- und Ausstellungsräume. Ein festes Büro hat der sehr aktive Deutsch-Vietnamesische Freundschaftsverein e.V. (DVF) mit rund 500 Mitgliedern und Sympathisanten beider Nationalitäten, viele davon sind ehemalige DDR-Vertragsarbeiter. Die Mitarbeiterin des DVF, Vu Thi Hoang Ha setzt sich seit über 18 Jahren für die Belange von Migranten ein. Ihr Verein wirkt jährlich an der Organisation des »Festes der Begegnung« mit, das seit 1995 zum »Herrentag« im Stadtzentrum für ein multikulturelles Gegengewicht zur Präsenz stark alkoholisierter deutscher Männer bildet. Anders als beim ersten Mal, als die Migrantengruppen mehr oder minder unter sich waren, werde das gemeinsam mit der Polizei organisierte Fest inzwischen gut von der Bevölkerung angenommen, so Vu Thi Hoang Ha. Die angespannte Stimmung, wie sie Mitte der 90er Jahre zu spüren war, habe sich gelegt. »Die Menschen sind offener geworden«, berichtet die vietnamesische Magdeburgerin. Das ist sicher auch ein Verdienst des Eine-Welt-Hauses, in dem die Menschen unterschiedlicher Herkunft sich frei und ungezwungen begegnen. Hier können sie Sprachkurse besuchen, Beratung in Behördenangelegenheiten einholen, Vorträgen zuhören, Kunstausstellungen zeigen oder einfach miteinander kochen. Eine wöchentliche Kinoreihe zeigt anspruchsvolle und kritische Filme aus Ländern des Südens. Die meisten Freundschaftsvereine können an den traditionell guten Beziehungen zu Osteuropa anknüpfen: Albanien, Polen, Bulgarien und Ungarn. Die Bilanz des Hauses, die Pressesprecher Volkmar Held vorlegt, ist beachtlich: Zwei bis drei Veranstaltungen täglich (rund 800 im Jahr 2001) sowie rund 17000 Besucher im Jahr. »Wir sind ein Zentrum der internationalen Begegnung«, sagt Held. Feste Institutionen im Haus sind neben den »bilateralen« Vereinen und der AGSA auch der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e.V., der Eine-Welt-Laden (Magletan e.V.), die kirchliche Kleinstbank Oikocredit, die Sozial- und Rechtsberatung Kontakt International e.V., der Menschen(s)kinder e.V. und der Meridian e.V., eine Anlaufstelle für Aussiedler und Kontingentflüchtlinge. Ein besonderes Augenmerk des Eine-Welt-Hauses gilt Kindern und Jugendlichen. Pressesprecher Volkmar Held betonte die Wichtigkeit der jährlichen »Eurocamps«, bei denen Jugendliche aus ganz Europa für mehrere Tage zusammenkommen - dieses Jahr mit 90 Jugendlichen aus 40 Ländern in die Altmark, um den Schlosspark von Letzlingen zu restaurieren. Auf die Frage, was diese Arbeit mit der Nord-Süd-Thematik zu tun hat, verwies Held auf die Bedeutung der »entwicklungsbezogenen Öffentlichkeitsarbeit«. Jugendliche sollten für das Zusammenleben mit anderen Kulturen, die ökologische und soziale Nachhaltigkeit sowie Zuwanderung und Integration sensibilisiert werden. Die Formel der »entwick-lungsbezogenen Öffentlichkeit« kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Schwerpunkt der AGSA in der Integration von Migranten aus Europa (inklusive Osteuropa) und Vietnam liegt - diese überaus wichtige Aufgabe erfüllt die Auslandsgesellschaft sehr gut - während die Zusammenarbeit mit Ländern des Südens eher eine Nebenrolle spielt. Entwicklungspolitische Gruppen, die sich auf Nord-Süd-Fragen und »globales Lernen« spezialisiert haben, sind in Sachsen-Anhalt überwiegend unabhängig oder im Landesnetzwerk Entwicklungspolitik Sachsen-Anhalt (LESA) organisiert. Ähnliche Netzwerke gibt es in allen Bundesländern außer Hessen. Das LESA besteht aus 23 Einzelpersonen und Vereinen, wie zum Beispiel dem Deutschen Aussätzigenhilfswerk (Leprahilfe, Büro Magdeburg), dem Arbeitskreis Vierte Welt e.V. und mehreren Eine-Welt-Läden. Nur eine Hand voll Vereine sind sowohl im Eine-Welt-Haus als auch im LESA organisiert. Zum Teil gebe es zwischen dem Netzwerk und der Auslandsgesellschaft »persönliche Befindlichkeiten«, so AGSA-Geschäftsführer Michael Marquardt, der selbst Mitglied im LESA ist. Manche LESA-Mitglieder kritisieren hingegen die große Abhängigkeit des Eine-Welt-Hauses von Landesmitteln und eine damit verbundene »Regierungsnähe«. Nach dem Regierungswechsel in Sachsen-Anhalt (CDU/ FDP) könnte aber beiden bald ein sehr scharfer Wind ins Gesicht blasen. Eigentlich geht es ihnen um die gleiche Sache: Das gleichberechtigte Miteinander aller Menschen in der »Einen Welt« - nur nähern sie sich ihr von verschiedenen Seiten: die Auslandsgesellschaft mit interkulturellem Austausch vor Ort und das Netzwerk mit seiner Nord-Süd-Arbeit. Ob die AGSA mit der LESA zusammenarbeitet oder ob sie sich womöglich gegeneinander ausspielen lassen, wird die Zukunft zeigen. Immerhin, das neue Eine-Welt-Handbuch Sachsen-Anhalt (die letzte Ausgabe stammt...

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