Mit Herz - und Füßen

Entdeckungen in Sibirien - von Dietmar Schumann

  • Ulrich Makosch
  • Lesedauer: 3 Min.
Zwischen Kursk, Kosovo und Kabul hat der Moskauer ZDF-Korrespondent Dietmar Schumann eben im Verlag Das Neue Berlin sein Buch »An der Lena flußabwärts« veröffentlicht. Es ist das Buch zur ZDF-Reportage »Blut und Diamanten« über das Einzugsgebiet dieses gigantischen Stroms im tiefen Osten Sibiriens, welches 25 Mal größer als die DDR ist. Es könnte auch den Titel tragen »Was hat die "Wende" den Menschen und dem Land an der Lena gebracht?«. Bücher Moskauer Fernsehleute sind eine Tradition geworden, denkt man an Krone-Schmalz, Bednarz, Pleitgen oder Ruge. Was reizt sie? Abgesehen von der Dimension und der Faszination des Landes und seiner Menschen versuchen sie, die Flüchtigkeit des Bildes im gedruckten Wort festzuhalten. Der Tagesbericht gestattet zudem oft nur die Länge einer Minute und zwingt zur Verknappung. Bei Schumann, dessen Urteile aus der Autorität seines halben Lebens kommen, das er in der Sowjetunion und ihren Resten - zuerst als Korrespondent des DDR-Fernsehens - verbracht hat, ist gerade diese Vergangenheit die wesentliche Motivation. Er sagt: »Ich war damals Bürger der DDR, lebte in dem deutschen Staat, der sich als »kleiner Bruder« der großen und ruhmreichen Sowjetunion in ewiger Freundschaft verbunden fühlte. Die "Freundschaft" war so unverbrüchlich, daß Kritik am "großen Bruder" verboten war. Ein Buch über die Wirklichkeit in der Sowjetunion zu schreiben, noch dazu für einen Verlag im Westen, hätte für mich Mitte der 80er Jahre unweigerlich den Abschied von der DDR bedeutet. Den aber wollte ich nicht nehmen.« Herausgekommen ist eine Zustandsbeschreibung, keine Vierteilung des Ostens, wie sie jüngst durch das ZDF an der DDR verübt wurde, sondern eine nachdenkliche Studie, von Verständnis getragen und Verständnis schaffend, die die Schönheit dieses Landstrichs herausholt und dennoch bitter bis gallig die Zustände beschreibt. Schumanns wichtigste Arbeitsmittel sind die Augen, das Herz - und die Füße, mit denen er sich seine Eindrücke erarbeitet und die täglichen Widrigkeiten überwindet. Dazu gehören Bärenjagd, Hochwasser, Diamantensuche und Issyach- Fest ebenso wie die teils blutige Vergangenheit, er erlebt die Plackerei der Partner, denen er begegnet, ebenso aber auch ihre Unverwüstlichkeit; die Antworten über die »Gesellschaft im Vielvölkerstaat Rußland, in dem die meisten Menschen nach 74 Jahren Kommunismus und zehnJahren Räuber-Kapitalismus nicht wissen, was ihnen der morgige Tag beschert«, bleiben offen. Der Leser erinnert sich: Das Unangenehme nicht auszusprechen, nicht zu sehen und nicht zu hören, macht es ja nicht ungeschehen, und er verwechselt den Überbringer der Nachricht nicht mit der Nachricht. Mit einem gewissen grimmigen Fatalismus erinnert sich der Leser aus der DDR, der Schumanns Wahrheit von der »unverbrüchlichen Freundschaft« noch im Gedächtnis hat, auch ein anderes Label und Verhaltensmuster der unmittelbaren Gegenwart, das von der »uneingeschränkten Solidarität«, dessen signalgebende Auswirkung im »Wickert-Syndrom« zu besichtigen war und dem Leser sehr nachhaltig vor Augen führte, wie der »Mainstream« heute in der Praxis funktioniert. Die Fotos, die Gaby Schumann entlang der Lena gemacht hat, begleiten den Text in schöner Unaufdringlichkeit.
Dietmar Schumann: An der Lena flußabwärts. Das Neue Berlin, 2002. 220S., geb., 17,50 EUR.
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