Eis der Einsamkeit

Thalia Hamburg: »Kabale und Liebe« - von Schillheimer

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.
Auch dieses Theater beginnt mit dem absoluten Dunkel der Welt. Dann öffnen sich die Hinterwände der Bühne, ein Kreuz gleißt auf. Luise zieht ihren Ferdinand heraus ins Licht, das jetzt dämmert und warm wird. Erst weit genug entfernt von Kreuz und Symmetrie, vorn an der Rampe, werden Winzlinge zu Menschen. Eine Metapher, ein Augenblick - was muss mehr aufgeboten werden, um eines Dichters Religionskritik auszudrücken. Michael Thalheimers »Kabale und Liebe« am Thalia Theater Hamburg: eine faszinierend konzentrierte Versinn-Bildlichung Schillers. Kunst, so anders als Realität: Die einfache Lösung ist plötzlich die erschütterndste, weil ausgerechnet sie eine große Wahrhaftigkeit offeriert. Später wird Luise Millers Vater (Norman Hacker) dem Sekretär Wurm auf die Brust schlagen, als schlüge er eine Stimmgabel, und zupfen wird er an dessen Weste wie am Cello. Dies Zupfen ist Frechheit und dienerisch zugleich. Da haben wir in einem Bild die ganze Welt des bürgerlichen Musikus zwischen Aufbegehren und Anpassung - Thalheimer ist nicht ausführlich, er ist genau. Und besagten Wurm (Hans Löw), Intrigant aus Schwäche, sah ich noch nie so bedauernswert, bewusstseinsgespalten: Wenn er im Auftrag des Präsidenten den bösen Brief der Kabale diktiert, revoltiert sein Körper. Die Sache zeigt sich als das, was sie ist: zum Kotzen. Den Stimmen dieses Stücks ist nichts gültig außer egomaner Selbstbehauptung. Worte: Termiten des Lügnerischen, die nichts Lebendiges übrig lassen auf ihren Wegen. Später wird jeder zu Grimassen flüchten, wenn er die Maske des Korrekten nicht halten kann. Gequälte, verlorene Menschen, gefesselt an Interessen einer Selbstverwirklichung, die jeden anderen neben sich ausschließt. Wenns Innen überläuft, entgleisen Münder, schwellen Adern an, loderts rot auf Stirnen, drohen Köpfe zu platzen. Das ist das Trauerspiel, das Thalheimer in Schillers Geschichte um eine nicht standesgemäße Liebe entdeckt: Inmitten einer Tragödie erniedrigt sich jeder mit gesellschaftsfähiger Fassung. Schiller rundum: Zeit, die uns den Hals zudrückt. Alle im Eis der Einsamkeit. So erfroren in Wahrheit zitterte der Klassiker lange nicht. Olaf Altmanns helle Holzkastenbühne ist Grauen erregend leer. In diesen seelenlosen Raum kommt man nicht, man ist immer ein dahin Bestellter. Und man geht nicht ab, man druckst sich weg; im Verschwinden verweht. Der Nächste, bitte! Wenn Luise und Ferdinand (unvergesslich!) ihre Hände ineinander kneten, ist das zu Beginn eine Innigkeit, die von den Gesichtern aber bereits verraten wird - ehe jene Kabale überhaupt beginnt, mit der Ferdinands Vater, der Gerichtspräsident von Walter, die beiden zu trennen versucht. Thalheimer inszeniert Hände und Rückgrate und Schrittfolgen. Er ist von einer Präzision im Detail, die hochkonzentriertes Sehen erfordert. Durchgefeilte, durchkomponierte und immer wieder pointierte »Orchestrierung« des Spiels. Ein Blick, und die Ordnung bebt; ein tonloses Flüstern, und das ersehnte andere Leben leuchtet auf - wie wenig es also bedarf, dass wir verraten, woran wir leiden. Wer stolpert und stürzt, ist ganz bei sich: am Boden. Der Präsident (fies, feist: Peter Kurth) krallt sich züchtigend in seinen Sohn, der das Bürgermädchen liebt, und der langhaarwirre, drogenblick-verhuschte Ferdinand (Peter Knopp) hat fortan eine Krümmung mehr im Charakter: Aus Sturm und Drang wird Wurm und Zwang. Die Hand, die zunächst ein Herz in Luises Hand pulste - bald nur noch ein gichtiges Zittern im Leeren. Der immer wieder ausgestreckte Arm hat keine Welt mehr, die er fassen könnte. Liebe? In zynischer Verzweiflung ein hässlicher Kuss auf den Mund des widerlichen Hofmarschalls (Markus Graf). Thalheimers Vereinseitigung vieler Facetten eines Stücks auf einen einzigen Erzählstrang ist nicht Verweigerung einer Tiefenprüfung, sondern deren Resultat: Nicht Klang des Wohllauts entscheidet, sondern die Struktur eines Konflikts, der tiefinnere Schrei. So streicht er radikal, aber das Drama platzt nur um so heftiger heraus. Werktreue. Luise, deren Blässe das Zentrum bildet: Die herb-kindliche Fritzi Haberlandt, eine der interessantesten jungen Schauspielerinnen, spielt dieses Mädchen mit grandiosem Aus-der-Welt-Sein. Verhärmter Aufputz zwischen Grün und Grau. Sie rührt an mit ihrem gesellschaftsvernichtenden Lächeln. Klagt an mit einem traurig und wissend schmalen Mund. Und dieser Stille noch in jedem Satz. Die einzige, die in ihrer Wesensart offen wäre für jeden Menschen neben sich. Ihr Todesurteil. Natur inmitten Unnatur: Es bedarf z...

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