Abschießen oder abrüsten?

Kündigung des Vertrags über Raketenabwehrbegrenzung provoziert Wettrüsten

  • Dr. Wolfgang Kötter
  • Lesedauer: 4 Min.
Heute wird der Rücktritt der USA vom Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehr (ABM - Anti-Ballistic-Missiles) wirksam. Die Aufkündigung des Abkommens beseitigt ein Rechtsinstrument, das 30 Jahre lang ein Wettrüsten mit Antiraketensystemen verhindert hat.
Die Bush-Regierung beseitigt nicht nur eine vertragliche Hürde für die Entwicklung und Erprobung eines hunderte Milliarden Dollar teuren land-, see-, und weltraumgestützten Systems zur Bekämpfung gegnerischer Raketen. Sie treibt vielmehr die Demontage des für Stabilität und Berechenbarkeit in der Weltpolitik unverzichtbaren Gerüsts völkerrechtlicher Verträge zu Rüstungskontrolle und Abrüstung voran. Daran ändert auch das gerade mit Russland geschlossene Abrüstungsabkommen nichts, denn es lässt den USA für alle geplanten Projekte freie Hand, läuft nach zehn Jahren automatisch aus und kann in der einmalig kurzen Frist von drei Monaten gekündigt werden. Der geplante Abwehrschild soll die USA angeblich vor terroristischen Angriffen und vor ballistischen Raketen aus »Schurkenstaaten« schützen. Doch dahinter steht das Ziel, eine in wesentlichen Aspekten neue Militärstrategie zu entwickeln, die über Eindämmung und Abschreckung hinausgeht. Die USA wollen ihre Offensivkraft durch eine Raketenverteidigung und die Einbeziehung des Weltraums in das militärische Handlungsspektrum effektivieren. Kernwaffen werden von Waffen der letzten Zuflucht zu Waffen erster Wahl. Der Raketenschirm, möglicherweise unter Einbeziehung von Abfangraketen mit Nuklearsprengköpfen, soll in Krisensituationen das eigene Territorium unverletzlich machen. Damit würden Aktionsräume für weltweite, als »Prävention« und »defensive Intervention« bezeichnete Militäraktionen geöffnet, eventuell unter Anwendung atomarer Waffen, ohne dass Gegenschläge zu befürchten wären. Schimäre Unverletzbarkeit Doch militärische Unverwundbarkeit ist eine Schimäre, und das Spekulieren auf Sicherheit durch Hochrüstung ist kontraproduktiv, weil es genau jene Risiken verstärkt, vor denen sich die USA schützen wollen: die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihren Trägermitteln. Das würde auch die Sicherheit aller übrigen Staaten gefährden, und so sorgt die US-amerikanische Mischung aus Arroganz und Autismus sogar bei Verbündeten häufig für Unverständnis. Zwar wird das System, falls es jemals funktionieren sollte, frühestens in Jahrzehnten voll einsatzfähig sein, doch die Folgen sind fatal und in ihrer Tragweite unabsehbar. Die Effektivität einer Raketenverteidigung ist umgekehrt proportional zur Quantität anfliegender Gefechtsköpfe. Erhöht sich deren Zahl, sinkt die Wirksamkeit der Abwehr. Entsprechend beabsichtigt Russland, auch aus Kostengründen, auf die Herausforderung asymmetrisch zu reagieren: Einzelsprengköpfe in strategischen Raketen werden durch Mehrfachsprengköpfe ersetzt, wodurch die Angriffskapazität vervielfacht wird. Eine weitere Antwort bestünde in der Entwicklung see- und luftgestützter Marschflugkörper größerer Reichweite. Moskau hat bereits angekündigt, sich fortan nicht mehr an die in den START-Verträgen vereinbarten Beschränkungen für Offensivwaffen gebunden zu fühlen. Am gravierendsten zeichnet sich ein weiteres nukleares Wettrüstens in Asien ab. China fürchtet, dass sein Nuklearpotenzial von etwa 20 Interkontinentalraketen durch die USA-Raketenabwehr vollends obsolet wird. Außerdem könnte Taiwan unter dem Schutz eines Raketenschirms der USA offiziell die staatliche Unabhängigkeit erklären. Schließlich ist China besorgt, im Falle einer Konfrontation schutzlos einem nuklearen Erstschlag der USA ausgeliefert zu sein, ohne wirksam antworten zu können. Der militärischen Logik folgend, hat Peking deshalb bereits erklärt, die Zahl seiner strategischen Offensivraketen zu vervierfachen. Kollaps des Sperrvertrags? Das wird Indien vermutlich zur Nachrüstung veranlassen, was Pakistan seinerseits als Aufforderung zum regionalen Rüstungswettlauf verstehen müsste. Selbst in Japan werden Stimmen für eine nukleare Option laut. Sehr wahrscheinlich blieben bei einer solchen Entwicklung andere Mächte nicht untätig. Mit verheerenden Konsequenzen für den Kernwaffensperrvertrag. Dessen Kollaps würde einem erneuten Rüstungsrennen mit Kernwaffen Tür und Tor öffnen, das Wettrüsten in den Weltraum tragen und die globale Sicherheitsarchitektur destabilisieren. Gibt es eine Alternative? Der Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen - bei uns anfangen« will auf seiner morgen in Erfurt beginnenden 6. Jahrestagung nach Antworten suchen. 40 Nichtregierungsorganisationen haben sich zusammengeschlossen und fordern mit ihrer Kampagne »Raketen abrüsten statt abwehren!« die Bundesregierung auf, »jede Beteiligung an einem Raketenabwehrsystem abzulehnen und die Regierungen der USA und Europas zum Verzicht darauf zu bewegen«. Statt kostspieliger Rüstungsprogramme verlangt der Appell politische Maßnahmen für die Beseitigung von Raketen und Atomwaffen. Aktionen wie die Selbstanzeigen von 19 Atomwaffengegnern wegen der öffentlichen Aufforderung zur »zivilen Inspektion« des Atomwaffendepots Büchel in der Südeifel verweisen darauf, dass sowohl dort als auch im pfälzischen Ramstein bis zu 130 Atomsprengköpfe mit einer Sprengkraft von mehreren hundert Hiroshima-Bomben lagern. Die Einsatzzentrale EUCOM dieser und über 100 weiterer in Europa gelagerter USA-Atomwaffen befindet sich in Stuttgart-Vaihingen. Die Bundeswehr ist mit der Bereitstellung von Tornado-Kampfflugzeugen und der Soldatenausbildung direkt beteiligt. Bereits im vergangenen Januar hat die Initiativgruppe den »Cochemer Appell« mit 20000 Unterschriften im Auswärtigen Amt übergeben. Darin wird die Bundesregierung angehalten, von den Verbündeten die Beendigung der Lagerung von Atomwaffen auf deutschem Boden zu verlangen, die nukleare Teilhabe aufzukündigen und sich international für die Abschaffung aller Atomwaffen einzusetzen.
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