Vor 70 Jahren begannen die NS-Morde in Hadamar

Mensch achte den Menschen

  • Ursula Wöll
  • Lesedauer: 3 Min.
Vor 70 Jahren, am 13. Januar 1941, steuerte der erste der berüchtigten grauen Busse mit den überstrichenen Scheiben Hadamar bei Limburg an. Er transportierte 30 Menschen, die man in der Durchgangsanstalt Eichberg zum Einsteigen gezwungen hatte. Oben auf dem Mönchberg angekommen, fuhr der Bus der »Gemeinnützigen Kranken-Transport-GmbH« direkt in die große Holzgarage. Die Frauen und Männer mussten aussteigen und durch den angeschlossenen Gang in das Gebäude nebenan laufen. Nach ihrer Registrierung ging es die Treppe hinab in den Vergasungsraum zum »Duschen«. Die Leichen fuhr man nach der Entlüftung auf einer Lore zu den beiden Verbrennungsöfen. Viele graue Gekrat-Busse sollten folgen, denn über 10 000 Patienten aus psychiatrischen Anstalten des Großraumes wurden allein in Hadamar ermordet.

Die meisten Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger des Tötungsteams kamen aus Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, wo ein Jahr zuvor, am 18. Januar 1940, die sogenannte »Euthanasie« begonnen hatte. Schon hier waren über 10 000 Menschen ermordet worden. Auch in Sonnenstein bei Pirna, Bernburg bei Magdeburg, Brandenburg und Hartheim bei Linz wurden geistig Behinderte am Fließband getötet, von den NS-Standesämtern ausgestrichen und in Urnen an die Angehörigen geschickt. »Man kann nicht sagen, dass die Transporte in Ruhe abgegangen sind. So hat ein Kranker geschrien, er wolle ans Grammophon und der Welt verkünden, was vor sich gehe. Ein anderer ist vor den Omnibussen niedergekniet und hat gefleht, man solle ihn doch da lassen«, sagte ein Oberpfleger nach 1945 aus. Die systematischen Morde von über 100 000 Patienten waren einer Sonderbehörde des Dritten Reiches unterstellt. Sie saß in der Berliner Tiergartenstraße 4 und sammelte mit der »Aktion T 4« auch Erfahrung für den nachfolgenden Holocaust. Vorausgegangen waren ›umständlichere‹ Experimente mit Motorengas oder Erschießungen im überfallenen Osten, die bereits tausende Opfer kosteten. Und selbst nach der förmlichen Einstellung der NS-Euthanasie-Aktionen kamen in vielen Heilanstalten noch Zigtausende um, die man einfach verhungern ließ oder »abspritzte«.
In Hadamar ist diese erste funktional erdachte Tötungsmaschinerie in der menschlichen Geschichte als Gedenkstätte konserviert. Von der Holzgarage mit den originalen Bretterwänden von 1941 bis zum Verbrennungsofen wiederholen Besucher auf Führungen den letzten Gang der wehrlosen Opfer. Deren namenlose Angst ist kaum nachvollziehbar, weil die Besucher wissen, dass sie die Treppe wieder hochsteigen können. Auch die Not der Entscheidung zwischen Reden und Schweigen der Hadamarer Bürger von damals bleibt ihnen erspart. Die Bevölkerung wusste, dass auf dem Mönchberg getötet wurde: die vielen Kohlelieferungen, der tägliche schwarze Rauch, die grauen Busse. Schulkinder riefen: »Da kommen wieder die Mordkisten.« Die Alten fürchteten: »Nach den Schwachsinnigen kommen wir dran.«

Die NS-Propaganda selbst legte diesen Schluss nahe. In Hadamar ist etwa ein Plakat ausgestellt, das einen starken Arbeiter zeigt, der zwei Missgestalten schultert. Sein Text spricht den Betrachter direkt an: »Hier trägst Du mit. Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durchschnitt 50 000 RM«. Trotz oder gerade wegen solcher Propaganda wuchs die Unruhe in der Bevölkerung, zumal der Münsteraner Bischof von Galen die Morde öffentlich angeprangert hatte. In seiner Predigt vom 3. August 1941 sagte der Kirchenmann: »Wenn einmal zugegeben wird, ›unproduktive‹ Mitmenschen zu töten – und wenn es jetzt auch nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft –, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben.« Kurz darauf, am 24. August 1941, gab Hitler den mündlichen Befehl, die Gasmorde in den T4-Anstalten einzustellen. Die Führungen durch die Gedenkstätte Hadamar enden vor einem Stein mit der Mahnung: »Mensch achte den Menschen«.

Am 13. Januar gestalten Schauspieler ab 18 Uhr in Hadamar eine Lesenacht zum Gedenken an die Opfer. Informationen unter Tel. 06433-917-172 oder -170 und www.gedenkstaette-hadamar.de
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