nd-aktuell.de / 08.01.2011 / Kommentare / Seite 5

Erwünscht ist, wen der Markt braucht

Eine kleine Geschichte des Zuwanderungslandes Deutschland

Harald Kretzschmar
Zeichnung: Harald Kretzschmar
Zeichnung: Harald Kretzschmar

Schade drum. Schade, dass die gloriose Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nun eine so wenig ruhmreiche Phase durchmachen muss. Triumphale Befriedigung wird plötzlich in Frage gestellt. Wer sich immer auf der Siegerstrecke dünkte, wird unsanft geweckt. Erst das schockierende Debakel diverser Ermittlungen zum Bildungsniveau. Und nun die frustrierende Erkenntnis über das Fehlen gut ausgebildeter Fachkräfte in zahlreichen Industriezweigen und Wissenschaftsbereichen. Auf einmal heißt es, Zuwanderung sei dringend erforderlich. Nanu, fragt man allerseits, wer sind wir denn? Wir, als Ausbund von professionellem Fleiß und kreativer Tüchtigkeit in aller Welt geschätzt – wieso haben denn wir das nötig?

Ja, da ist wohl einiges an geschichtlichen Tatsachen nicht recht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Haben doch die Zentren industrieller und wissenschaftlicher Hochleistung in Deutschland seit Jahrhunderten von Zuwanderbewegungen profitiert. Neben der sukzessiven Mobilisierung aller Intelligenzreserven im eigenen Land aus vorher sträflich ausgegrenzten sozialen Schichten (wozu auch die lange diskriminierte jüdische Bevölkerung gehörte) gab es immer Zuwanderung. Lange ehe dieser Teil Deutschlands das Prädikat »Westliche Welt« erhielt, gab es einen unwiderstehlichen Sog über die östlichen Grenzen hinweg. An Rhein und Ruhr war schwerindustrielle Hochkompetenz konzentriert, die Facharbeiter und Ingenieure aus dem Hinterland von Oder und Weichsel anzog. Polnische Namen brachten in der industriellen Gründerzeit Bergbauschächte und Hüttenbetriebe mit hochqualifizierter Arbeit hoch.

Der nazistische Rausch ausgrenzenden Rassenwahns und nichtswürdiger Versklavung der Nachbarvölker hinterließ zunächst ein wüstes Trümmerfeld. Die ins Exil getriebene jüdische akademische Elite hatte sich inzwischen weitgehend im Wissenschaftsstandort USA oder anderswo engagiert. Und wer unterworfen und zwangsverpflichtet gewesen war, blieb kaum freiwillig. Die von Hitler expansionsbedürftig zum »Volk ohne Raum« ernannten Deutschen mussten sich mit dem Status der geschrumpften und am Ende sogar geteilten Nation zufrieden geben. Was nun? Es geschah ein im öffentlichen Bewusstsein seltsamerweise immer ausgeblendetes menschliches Wirtschaftswunder. Eine innerdeutsche Ost-West-Wanderung ungeahnten Ausmaßes bewältigte eine beispiellose Auffrischung und Umschichtung aller personellen Ressourcen.

Wer immer da nach alliiertem Ratschluss zwangsläufig die Ostprovinzen hinter der Oder räumen musste, fand sich in dem einen oder anderen Restteil Deutschlands entweder als »Umsiedler« oder als »Vertriebener« wieder. Beide Begriffe verrieten politische Färbung. Die von ihnen benannten Personenkreise mussten die Qual auf sich nehmen, sich da und dort in trotz Kriegszerstörung intakt gebliebene traditionelle Infrastrukturen zu integrieren. Die enormen Kriegsverluste an männlichen Arbeitskräften mussten blitzschnell ausgeglichen werden. Bald gab es Auslese nach fachlicher Eignung dorthin, wohin ein Sog viele zog – in die vom Marshallplan und anderen Entlastungen begünstigten Westprovinzen. Dem Lockruf, am Aufbau einer dort bald prosperierenden Wirtschaft mitzuwirken (und selbstverständlich teilzuhaben), folgten bald ganze Massen von qualifizierten Kräften. Zumal westwärts eine maßvoll modifizierte Konservierung gewohnter Machtverhältnisse betrieben wurde. Dem ostwärts betriebenen Umsturz derselben konnte jedermann mühelos entgehen, dem die damit verbundenen Konflikte gegen den Strich gingen.

Selbst als aus dieser Situation zwei ungleich programmierte Staatsdoktrinen entstanden, blieb es beim Zustand der ständigen Zuwanderbewegung Ost nach West. Ob es nun in jedem Fall den Tatsachen entsprach, wenn behauptet wurde, man sei vor politischer Verfolgung geflohen – das soll hier nicht bewertet werden. Nur eines steht fest: Oft genug ergab sich der politische Konflikt erst aus der Absicht, aus wirtschaftlichen Gründen die Seite zu wechseln. Die dabei apostrophierte Freiheit bestand halt in der Chance, besseres Geld zu verdienen und damit wirklich etwas darzustellen in der Welt. Fakt war – was sich »der Westen« nannte, musste sich um seine fast selbsttätige Attraktivität keine Sorgen machen. Und hatte dem entsprechend ständige Zuwanderung zu verzeichnen.

Jede zugewanderte Person war ein Plus auch in dem Sinn, dass man daraus Gewinn ziehen konnte. Man sprach dieselbe Sprache und hatte Geschichte und Tradition gemeinsam. Wer kam, hatte in der Regel eine Qualifikation. Bei jüngeren Jahrgängen war sie inzwischen durch gediegene Ausbildung in der Herkunftsgegend erworben. Wer den riskanten Ortswechsel wagte, war hochgradig motiviert. Wenn man die (häufig angeworben) Ankommenden willkommen hieß, erwartete man von ihnen eine widerspruchslose Einordnung in keineswegs von ihnen bestimmte Verhältnisse. So kam es dazu, dass ein hoher Anpassungsdruck die Neubürger in der Regel alles verleugnen ließ, was an ihre Herkunft und Entwicklung aus einem anderen gesellschaftlichen Milieu hätte erinnern können. Faszinierend zu beobachten, mit welchem Tempo da eine »moralisch-politische Einheit des Volkes« erzielt wurde, um die auf der anderen Seite ein gigantischer agitatorisch-propagandistischer Aufriss gemacht wurde. Der ganze Vorgang war als integratorische Meisterleistung mit denkbar positivem Ausgang beim Mauerbau nahezu abgeschlossen. Der konnte daher ohne Einsetzen militärisch unberechenbarer Mittel hingenommen werden. Zumal er auf lange Sicht die einzigartige Chance zur dauerhaften Stigmatisierung des anderen Systems als Zwangsherrschaft bot. Die wahre Ursache dieser brutalen Abschottung mitten im vorgeblich immer noch gemeinsamen Land war das Abblocken der Abwanderungsbewegung. Dass da der drohende Kollaps eines quasi am Ende von allen guten Geistern verlassenen Staatssystems die Ost-West-Balance überhaupt in Gefahr brachte, ist im Westen bis heute nicht vermittelbar.

Ironie der Geschichte – dort hatte man 1961 inzwischen Bedarf an ganz anderer Zuwanderung. Weniger hochqualifizierte Kräfte waren nun gefragt, die für diverse Dienstleistungen in der Wartung und Pflege des Erreichten sowie in preiswert anzubietender Gastronomie einsetzbar waren. Und die waren mühelos aus den Ländern des mediterranen Raums zu gewinnen. Diese sogenannten Gastarbeiter waren ja nun ein ganz neues Kapitel. Von dem profitierten alle. Die bodenständigen wie auch die zugewanderten Deutschen konnten sich gleichermaßen auf die qualifizierteren Jobs konzentrieren. Die nunmehr Zuwandernden aber bescherten der Bundesrepublik eine farbenfrohe Internationalität. Ein Nimbus völlig ungewohnter Gastlichkeit entstand.

Zur Zeit zerreißen sich die Mäuler geradezu darüber, wie bedrohliche Ausmaße eine misslungene Integration von Muslimen annehme. Zensuren werden verteilt. Angelpunkt der Bewertung der »Migranten« genannten ausländischen Zuwanderer wird das Erlernen jener Sprache, die für die deutschen Herbeigekommenen kein Problem war. Schlichte Tatsachen übersehend betont man gerne, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Als ob der Zuzug immer neuer Gruppen in diese Bundesrepublik nicht Jahrzehnte als Blutzufuhr in deren Organismus funktioniert hätte. »Menschen mit Migrationshintergrund« müssen nicht immer aus anderen Kulturkreisen gekommen sein.

1990 entstand mit der deutschen Einheit von einem Tag auf den anderen die geradezu sensationelle Chance, noch einmal das Bevölkerungspotential radikal umzuverteilen. Dass zunächst immense Zuwanderung in den Westen und katastrophale Abwanderung aus dem Osten drohte, wurde von der Euphorie einer so wunderschön geglückten »Wiedervereinigung« überstrahlt. Die übereilte Hast des Vorgangs allerdings signalisierte eine Befürchtung: Indem massenhaft die Leute von drüben als Lawine von Zuwanderung kämen, wäre das nicht mehr zu verkraften. Von der heilen Welt der Bundesrepublik musste dieses Unheil um jeden Preis abgewendet werden. Da half nur, die in Bewegung geratenden Menschenmassen durch umgehenden Währungswechsel und mittels Eingemeindung ihres gesamten Staatswesens zunächst ruhig zu stellen.

Es galt, ihnen in jeder Beziehung des Wortes entgegenzukommen. Der Markt war in der Lage, alle gewünschten Waren (als die wahrhaft begehrten Werte) dorthin zu bringen, wo diese Menschenmenge in der Mehrzahl vorerst bleiben konnte und sollte. So geschah es. Ein ganzes seine Selbstbefreiung feierndes Staatsvolk wurde neu diszipliniert. Über Nacht gehörte man dazu. Alles, was im Stammland in puncto Anpassung an Bestehendes verlangt war, erwartete man nun im Beitrittsgebiet ebenfalls von den Leuten. Eine übermächtige Marktmentalität sollte Wunder wirken. Nicht mehr gefragte Warenangebote, nicht mehr benötigte Industrien, nicht mehr passende Institutionen wurden aussortiert. Lebensläufe und Karrieren, ja, ganze Schicksale mit ihren Zukunftsplänen kamen auf den Prüfstand. Die Maßstäbe dafür wurden fix und fertig mit den Waren frei Haus geliefert. Im Handumdrehen war eine Evaluierung ungeahnten Ausmaßes im Gang. Eine fortan nur von Angebot und Nachfrage regulierte und dahingehend kanalisierte Wanderbewegung begann.

Exakte Prüfung war angesagt. Gern gesehen war eine gediegene naturwissenschaftliche oder ingenieurtechnische Ausbildung. Führungspositionen im traditionellen Machtbereich waren für solcherart Neulinge jedoch tabu. Ein willkommener Zusatzeffekt war, eigene Leute aus der zweiten Reihe als hilfreiche Vollstrecker dorthin entsenden zu können, und die Dortigen zum Ausgleich als Hilfskräfte für die dritte Reihe zu empfangen. Die Spitze des eigenen Managements blieb unangetastet. Sie konnte ihren Wirkungskreis weithin nach Osten ausdehnen. Man ist ja Exportweltmeister – insofern, dass Weisungsbefugte en masse exportiert werden.

Die einen Job suchen, dürfen als Bittsteller kommen. Unter eigentlichem Wert gehandelt, geht es bei ihnen mehr um Lebensunterhalt als um Selbstverwirklichung mit Aufstiegschancen. Wo nunmal eine produzierende Industrie zu erheblichen Teilen beseitigt ist, wandert das dazugehörige Arbeitskräftepotential ab. Da kann die heimische Infrastruktur noch so perfekt gestylt sein, der Landstrich verödet. Fatal: Die Ressourcen aus bereits qualifizierten Fachleuten erschöpfen sich inzwischen. Zu wenige Nachgeborene sind in der Lage, für eine Fortsetzung des Vorgangs zu sorgen. Die gewohnte ständige Zufuhr von frischer Kompetenz wird zum Auslaufmodell. Also – hört! hört! – Kassandra schreit nach Nachschub.


Bleiben darfst du, wenn ...

Zuwanderungsgesetz

Am 1.1.2005 trat das »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern«, kurz: Zuwanderungsgesetz, in Kraft. Wir dokumentieren einige wenige Passagen daraus:

§ 1, 1. Das Gesetz [...] ermöglicht und gestaltet die Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Das Gesetz dient zugleich der Erfüllung der humanitären Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland. [...]

§ 9, 2. Einem Ausländer ist die Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn

1. er seit fünf Jahren die Aufenthaltserlaubnis besitzt,

2. sein Lebensunterhalt gesichert ist,

3. er mindestens 60 Monate Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet hat oder Aufwendungen für einen Anspruch auf vergleichbare Leistungen einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung oder eines Versicherungsunternehmens nachweist [...]

4. er in den letzten drei Jahren nicht wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Jugend- oder Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder einer Geldstrafe von mindestens 180 Tagessätzen verurteilt worden ist,

5. ihm die Beschäftigung erlaubt ist, sofern er Arbeitnehmer ist,

6. er im Besitz der sonstigen für eine dauernde Ausübung seiner Erwerbstätigkeit erforderlichen Erlaubnisse ist,

7. er über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt,

8. er über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügt und

9. er über ausreichende Wohnraum für sich und seine mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen verfügt. [...]