Unerträglich?

Frankreichs Gedenkliste 2011 ohne Céline

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Jahre 1961 ist der französische Romancier Louis-Ferdinand Céline gestorben. Daran sollte in diesem Jahr erinnert werden. Zumindest war sein Name in die Liste der Gedenktage für 2011 aufgenommen worden, die das Kulturministerium in Form einer Broschüre verbreitet hat.

Neben Célines Todestag waren da beispielsweise auch der 100. Geburtstag des Schriftstellers Théophile Gautier und der erste Weltraumflug durch Juri Gagarin 1961 aufgeführt. Doch im Gegensatz zu ihnen und Dutzenden anderen Persönlichkeiten hat sich um Céline eine heftige Polemik entzündet. Serge Klarsfeld, der Vorsitzende der Vereinigung der Jüdischen Deportiertenkinder (FFDJF), empörte sich in den Medien über diese offizielle Ehre, die Céline zuteil werden sollte, und erklärte, man müsse »Jahrhunderte warten, bis man gleichzeitig die Opfer und die Henker feiert«.

Louis-Ferdinand Céline war als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg gezogen, doch schon bald wurde er schwer verwundet und durch die Greuel der Schützengräben zum Kriegsgegner. Nach dem Krieg studierte er Medizin, arbeitete zeitweise für den Völkerbund als Seuchenexperte und hatte große Schwierigkeiten, sich in Paris als Arzt niederzulassen und seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Neben Gelegenheitsjobs als Vertretungs-Arzt schrieb er seinen ersten Roman »Reise ans Ende der Nacht«, der 1934 herauskam und ein großer Erfolg wurde, aber auch wütenden Reaktionen nationalistischer Kräfte auslöste.

Das Buch ist eine genüssliche Herausforderung der bürgerlichen Doppelmoral. Es schildert mit gnadenlosem Realismus in der unbeschönigten, oft zotigen Sprache der einfachen Soldaten den Krieg in seiner ganzen Unmenschlichkeit. Für diesen Roman, der mit den herkömmlichen Stilregeln gebrochen und die französische Gegenwartsliteratur revolutioniert hat, erhielt Céline den Prix Renaudot, verfehlte aber knapp den größten Literaturpreis Goncourt, was ihn zeitlebens verbitterte.

Er trat mit den antikommunistischen, vor allem antisemitischen Pamphleten »Mea culpa«, »Bagatelles pour un massacre« und »L’école des cadavres« hervor, in denen er den Juden die Schuld am sich abzeichnenden neuen Weltkrieg gab. Als die Alliierten Frankreich befreiten, flüchtete Céline über Deutschland nach Dänemark. Hier stand er jahrelang unter Hausarrest, wurde aber nicht ausgeliefert, wie es Paris forderte, denn er war als ein Vordenker faschistischer Kollaboration zum Tode verurteilt worden. Erst als er 1951 – aufgrund seiner Medaillen und Verwundungen aus dem Ersten Weltkrieg – unter eine Amnestie fiel, kehrte Céline nach Frankreich zurück.

In seinen letzen Jahren veröffentlichte er noch einige Romane und seine Erinnerungen. Seine menschenverachtende Einstellung hatte sich nicht geändert, aber vorsichtshalber verfügte er, dass seine Pamphlete der Vorkriegszeit nie wieder veröffentlicht werden dürften. Unmittelbar nach seinem Tod erhielt er die höchste literarische Ehrung, die in Frankreich einem Schriftsteller zuteil werden kann: In vier Bänden erschienen seine Romane und auch noch ein Band Briefe in der ledergebundenen Klassikerreihe »Pleiade« des Verlags Gallimard.

Der Literaturprofessor und Ehrenpräsident der Pariser Sorbonne Henri Godard schätzt ein: »Céline war ein virulenter Antisemit. Was er auf diesem Gebiet gesagt und geschrieben hat, ist unerträglich und unentschuldbar. Aber er ist auch der Autor eines Romanwerks, das heute zusammen mit dem von Proust die französische Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert.« Es gibt auch Juden, die ihn bewundern, etwa der US-amerikanische Autor Philip Roth, der erklärt, um Céline zu lesen, müsse er sein »jüdisches Bewusstsein abschalten, aber das tue ich, denn der Antisemitismus ist nicht der Kern seiner Romane«.

Die Kritiker des offiziellen »Gedenkens« an Céline wenden ein, dass man den Menschen und seine Überzeugungen nicht vom Literaten und seinem Werk trennen kann. Selbst eine herausragende Rolle bei der Erneuerung der französischen Literatur könne nicht entschuldigen oder vergessen machen, dass der anerkannte Autor Céline in moralischer Hinsicht versagt habe. Die Schriftstellerin Cathérine Clément, die selbst die Enkelin von Deportierten ist: »So lange noch Opfer am Leben sind, wird ihnen eine offizielle Ehrung von Céline unterträglich sein.«

Kulturminister Frédéric Mitterrand, der zunächst versucht hatte, sich mit dem Hinweis auf den Unterschied zwischen »Gedenken« und »Ehrung« herauszureden, musste sich dem Druck der Kritiker beugen und hat Céline von der »Gedenkliste« 2011 gestrichen.

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