Hochrechnen und abrechnen

  • Lesedauer: 3 Min.

Zu den Grundfesten unserer öffentlichen Kultur gehört, bewusst hergestellt, die ständige Erregungsbereitschaft. Sie funktioniert auch, weil manche dankbar sind, nicht auf Langeweile und Wiederholungen im eigenen Leben zurückgeworfen zu sein. Unerhörtes von anderen und von woanders belebt, fremdes Leid leider eingeschlossen. Deshalb erschnüffeln die vom Aufsehen lebenden Medien geeignete Erregungsstoffe mit einer Akribie, die Kontrolleuren der Futter- und Lebensmittelindustrie zur Ehre gereichen würde. In Demokratie und Wirtschaft wird halt der mitunter durchaus waltende Feinsinn nicht immer am richtigen Ort und zu einem Zeitpunkt angetroffen, an dem er im wirklichen Interesse der Öffentlichkeit erforderlich wäre.

Ein bewährtes Instrument der Erregungsindustrie ist die Abrechnung. Nicht im fiskalischen Sinne. Die ohnehin. Was keinen Preis erzielt oder verlangen kann, existiert praktisch nicht. Öffentlich interessant bzw. interessant zu machen sind Abrechnungen im interpersonellen Bereich, um mal hochtrabend zu werden. Jeden Tag, dafür wird werbemäßig gesorgt, rechnet jemand öffentlich mit anderen ab. In Buchform, auch per Interview-Kanonade oder in Talkshows, am besten alles auf einmal, das metert. Auch finanziell, aber dies nur nebenbei.

Abgerechnet, behaupten Medien, wurde jüngst wieder mit Helmut Kohl. Die aktuellste Rechnung präsentiert sein älterer Sohn Walter. Als neue Folge der Serie »Bücher, die die Welt nicht braucht«. Wer will, erfährt darin u. a., dass der ewige Kanzler ein kaum interessierter Vater war, dessen Aufmerksamkeit mehr urbi et orbi galt, seinen Kindern aber weniger. Ziel harter Abrechnungen war und ist derzeit auch Gesine Lötzsch, die den Erregungssuchern in nachrichtenarmer Zeit – von kurz vor Weihnachten bis zum Drei-Königs-Wochenende sagt man am besten gar nichts – das Reizwort Kommunismus vor die empfangsbereiten Nasen warf.

Etwas subtiler als bei Lötzsch verläuft die derzeitige Abrechnung mit dem bekannten Staatsschauspieler K. T. zu Guttenberg, dessen wohliges öffentliches Gehabe nunmehr selbst in den eigenen Reihen und beim Koalitionspartner FDP die Sättigungsgrenze erreicht zu haben scheint. Der Wehrbeauftragte Königshaus, FDP, machte gleich mehrere Missstände öffentlich, die den König der Umfragen aus dem Häuschen und in Erklärungsnot brachten. Vermutlich gibt es die angeprangerten Zustände, zum Beispiel auf der »Gorch Fock«, und natürlich muss der Wehrbeauftragte so etwas benennen und Aufklärung verlangen. Aber überraschend ist das alles nicht, manches liegt schon länger zurück. Bisher wurde es schlicht ein wenig dosierter ans Licht gebracht. Wir lernen, dass Demokratie am besten funktioniert, wenn sie auch von feiner Denkzettelmentalität gestützt wird.

Voraussetzung für den Erfolg öffentlicher Abrechnungen ist das Bedienen von Erwartungen beim Publikum. Wer die Bilder in Erinnerung hat, die Kohl auf heimischer Terrasse zeigen, umgeben von Frau und Kindern, ahnte wohl, dass das Anbieten solcher Idylle aus der Unkenntnis kam, wie fordernd es sein kann, der Familie gerecht zu werden. Und Gesine Lötzsch als Vorsitzende einer sehr unvollkommenen, dennoch von allen anderen gehassten Partei ist ein nahezu ideales Abrechnungsobjekt. Dass sie sich mit Stalins massenmörderischer Praxis identifiziert oder ihr gar nach deren Wiederbelebung zumute ist, glauben die Gröhes, Dobrindts und Lindners allerdings selber nicht. Es ist Lötzschs ganzer Laden, der vielen suspekt bleibt.

Der schnittige Baron schließlich mit seiner angeblich alternativlosen Beliebtheit hat eine Fallhöhe erreicht, die die massenmediale Benennung seiner Schwächen ebenfalls zum Publikumsrenner machen würde. Er findet schnell Schuldige, wenn er selbst gefordert wäre, seine angekündigten Reformen werden in sich halbherziger und kosten mehr Geld als der Ist-Zustand. In der Demokratie, sehen wir, geht das Leistungsprinzip mitunter ganz schöne Umwege.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal