Verhängnisvoller Befehl bei Loveparade?

»Spiegel«-Recherchen stehen im Widerspruch zu bisherigen Polizei-Aussagen

  • Marcus Meier
  • Lesedauer: 3 Min.
Im Rahmen der Ermittlungen zum Loveparade-Unglück vom 24. Juli 2010 sind neue Vorwürfe gegen die Polizei laut geworden, wie das Magazin »Der Spiegel« in seiner aktuellen Ausgabe berichtet. Dem Bericht zufolge soll ein leitender Polizeibeamter den »verhängnisvollen« Befehl gegeben haben, eine Eingangsschleuse komplett zu öffnen.

Dies sei trotz Überfüllung des Festivalareals und im Widerspruch zu anderslautenden Anweisungen der Veranstaltungsleitung geschehen. Ordner hätten befürchtet, dass es durch die Öffnung zu einem Stau im Eingangstunnel kommen werde. Doch diese Einwände habe der Polizist nicht gelten lassen. Sein Ziel sei es gewesen, den Bereich vor einer Absperrung zu entlasten, wo zu diesem Zeitpunkt tausende Raver Einlass begehrten.

Das Magazin beruft sich auf übereinstimmende Aussagen mehrerer Ordner. Auch sollen Polizisten sich von privaten Sicherheitskräften Werkzeug ausgehändigt haben lassen, um eine Absperrung abzumontieren. Diese Beweismittel seien offenbar verschwunden, so »Der Spiegel«.

Bisher hatte die Polizei immer behauptet, ihre Verantwortlichkeit für die Sicherheit habe vor dem Zugang zum Gelände geendet. Wenn Polizisten tatsächlich aktiv – und noch dazu in kritikabler Weise – auf die Regulierung der Raver-Ströme eingewirkt haben, stellt sich die Sachlage ganz anders dar. »Die Verantwortung der vor Ort handelnden Polizei war offenbar größer, als der Innenminister in seinen offiziellen Stellungnahmen und vor dem Innenausschuss dargestellt hat«, erklärt Anna Conrads, die innenpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion der LINKEN.

Sollten sich die im »Spiegel«-Bericht erhobenen Vorwürfe bewahrheiten, so wäre die Frage nach der Verantwortung für das Unglück jedoch allenfalls ein Stück weit geklärt. Das angebliche Fehlverhalten des Polizisten kann keineswegs das gesamte Unglück und dessen Ursachen erklären. Es stünde durchaus nicht im Widerspruch zu weitreichenden Fehlern bei Planung und Durchführung der Loveparade, bei der vor gut sechs Monaten 21 Menschen getötet sowie Hunderte verletzt und traumatisiert wurden.

Verantwortung zugewiesen wird drei Akteurgruppen: Der städtischen Verwaltung (hier insbesondere Oberbürgermeister Adolf Sauerland), dem Loveparade-Veranstalter Lopavent und eben der Polizei, mittelbar auch deren oberstem Dienstherren Landesinnenminister Ralf Jäger (SPD), der zum Zeitpunkt des Unglücks jedoch erst wenige Wochen im Amt war.

Verantwortung übernehmen will niemand. Verantwortung an andere potenziell Verantwortliche abschieben – das machen alle. Minister Jäger hat immerhin eingeräumt, dass polizeiliche Fehler nicht ausgeschlossen werden können. Das ist sein Alleinstellungsmerkmal im von vielen als mies empfundenen Schwarzer-Peter-Spiel.

»Für die Verletzten der Loveparade und die Angehörigen der Opfer ist es sicherlich eine kleine Erleichterung, wenn nun Schritt für Schritt Licht in das Dunkel der Ereignisse des Katastrophentages kommt«, räumt Anna Conrads ein. Allerdings sei damit »weder die Verantwortung für die Genehmigung der Gesamtkonzepte« geklärt noch »die politische Verantwortung für diese Großveranstaltung, die um jeden Preis durchgedrückt werden sollte«.

Vor zwei Wochen hatte die Staatsanwaltschaft, die bis dahin gegen Unbekannt ermittelte, formale Verfahren gegen 16 als Beschuldigte Geführte eröffnet. Zu ihnen zählt, neben vier städtischen Bediensteten und vier Lopavent-Mitarbeitern, auch ein leitender Polizeibeamter, mutmaßlich jener, gegen den nun die neuen Vorwürfe erhoben werden.

Bei den 16 Personen besteht ein Anfangsverdacht der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung. Letzte Woche wurden Arbeitsplätze und Wohnungen von Beschuldigten durchsucht. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft sagte, dass seiner Behörde zuvor nicht alle relevanten Daten ausgehändigt worden seien. Dass Beweismaterial unterschlagen worden sein könnte, wertete er als »reine Spekulation«. Zumindest bis jetzt nicht im Visier der Staatsanwälte sind Oberbürgermeister Adolf Sauerland und Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller, in denen viele die Hauptverantwortlichen des Unglücks sehen.

Sauerland steht immer schärfer in der Kritik von Bürgern, Verwaltungsmitarbeitern und Medien. Er gilt als tragische Figur. Der Hauptvorwurf: Er habe das Event Loveparade trotz enormer Bedenken durchgesetzt, um die finanziell klamme und als nicht besonders attraktiv geltende Stadt Duisburg preisgünstig zu bewerben. Der Christdemokrat weigert sich jedoch, zumindest die politische Verantwortung für das Unglück zu übernehmen und entsprechend von seinem Amt zurückzutreten. Er wolle, sagt er, zur Aufklärung beitragen. Kritiker vermuten indes, er bleibe aus finanziellen und auf seine Versorgungsansprüche bezogenen Gründen im Amt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal