nd-aktuell.de / 05.02.2011 / Kommentare / Seite 21

Etwas bewegt sich

Literaten melden sich wieder politisch zu Wort. Warum?

Thomas Wagner

Einem weit verbreiteten Vorurteil nach melden sich Schriftsteller heute kaum noch zu Wort, wenn es um politische Fragen geht. Aber stimmt das überhaupt? Wer genau hinsieht, statt den kurzlebigen Literaturmoden zu folgen, die im Rhythmus der Buchmessen und Literaturpreis-Verleihungen alljährlich ausgerufen werden, kann die Diagnose nicht bestätigen. 20 Jahre nach dem Mauerfall engagieren sich gerade die Autorinnen und Autoren der mittleren und jüngeren Generation so vielfältig wie schon lange nicht mehr. Jenseits von Pop-Literatur, Fräuleinwunder und einem sogenannten Neuen Feminismus melden sie sich deutlich vernehmbar zu Wort, greifen als kritische Intellektuelle kraftvoll und beherzt in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ein.

Neben Romanen politischen Inhalts, die auch in ästhetischer Hinsicht überzeugen, wie Ulrich Peltzers »Teil der Lösung« und Erasmus Schöfers Tetralogie »Die Kinder des Sisyfos« feierte in jüngster Zeit auch die ehrwürdige Gattung der literarisch-politischen Kampfschrift ein fulminantes Comeback. Den Anfang machten Robert Menasses Frankfurter Poetikvorlesungen »Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung« aus dem Jahr 2006. Sie sind eine sprachgewaltige Kampfansage gegen den Demokratieabbau im Fortschreiten des europäischen Einigungsprozesses und entwickelten sich trotz weitgehender Nichtbeachtung durch das bürgerliche Feuilleton zu einem Geheimtipp unter jungen und alten Kritikern einer ungehemmten Deregulierung und Privatisierung öffentlicher Angelegenheiten.

Juli Zeh und Ilija Trojanow gelang dann im Jahr 2009 mit »Angriff auf die Freiheit« eine scharfe Polemik gegen den Abbau der Bürgerrechte im Zeichen des internationalen Antiterrorkampfes und Dietmar Dath vermochte mit seinem schmalen Buch »Maschinenwinter« (2008) und einer Rosa-Luxemburg-Einführung wohl auch deshalb viele junge Leser für den Marxismus zu interessieren, weil er ein klares, unverbrauchtes Deutsch zu schreiben in der Lage ist, das ganz ohne linke Phrasendrescherei auskommt.

Trotzdem scheint ein Großteil der professionell mit Literatur befassten Kulturarbeiter von dieser Renaissance der engagierten Literatur kaum etwas zu bemerken. Aber woran liegt das? Wohl nicht zuletzt daran, dass alle bisherigen Debatten über das Ausbleiben bzw. die Rückkehr des literarischen Engagements mindestens in zweierlei Hinsicht defizitär waren. Zum einen stand die klassische Form des Romans im Mittelpunkt. Aktuelle politische Tendenzen im Bereich der Spannungsliteratur, des Krimis, der Science-Fiction, des Jugendbuchs oder der Poesie blieben ausgeklammert. Dabei war gerade hier längst zu finden, was gewöhnlich vermisst wird: die literarische Befassung mit brisanten politischen Themen. Man denke nur an die populären Politthriller eines Wolfgang Schorlau, die Jugendbücher Michael Wildenhains oder die Renaissance der politischen Lyrik, die 2009 in der Rotbuch-Anthologie »Alles außer Tiernahrung« dokumentiert wurde. Zum anderen war der Blick auf die Bücher selbst fokussiert. Kaum jemand fragte nach dem Engagement der Autoren als Intellektuelle. Dadurch erschien die Literatur deutlich unpolitischer, als sie es nach 1989 tatsächlich war. Gegenläufige Tendenzen blieben unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle.

Hinzu kommt: Linksliberale Positionen verloren in den Feuilleton-Redaktionen des vereinten Deutschlands spürbar an Gewicht, rechte Intellektuelle gewannen dagegen an Deutungsmacht. Als Daniel Kehlmann seine Eröffnungsrede zum Brecht-Festival des Jahres 2008 in Augsburg für eine Generalabrechnung mit der Gesellschaftskritik linker Intellektueller am Beispiel Bert Brechts nutzte, blieben empörte Repliken auf den Kulturseiten der großen Zeitungen aus.

Vor 1989 stand die öffentliche Rolle des Schriftstellers in der alten Bundesrepublik Deutschland noch in enger Beziehung zum Bildungsauftrag eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dessen Monopol gerade erst zu bröckeln begann. Mit dem von der Regierung Helmut Kohl durchgesetzten Siegeszug der Konzernmedien nahm die Präsenz der Schriftsteller und der klassischen Intellektuellen in Radio und Fernsehen deutlich ab. Andere nahmen ihre Stelle ein. Die Printmedien verringerten ihren Platz für kritische Interventionen und luden lieber sogenannte Experten zu Stellungnahmen ein. Anstelle von Schriftstellern beantworten seit den neunziger Jahren zunehmend Unternehmensberater die Frage, in welcher Gesellschaft wir künftig leben wollen.

Nach dem vorläufigen Ende des Sozialismus und dem Siegeszug der Privatisierungsideologie in Europa waren die kritischen Intellektuellen und sozial engagierten Künstler aus der herrschenden Weltsicht nahezu verschwunden. Und mit ihnen verschwanden die Begriffe, mit denen die dramatische Ungleichheitsentwicklung analysiert, die Parolen, mit denen Freiheitskämpfe ausgefochten und die Organisationen, in denen sich Widerstand hätte formieren können.

Dabei sind kritische Intellektuelle heute notwendiger denn je. Die in globalem Maßstab ständig wachsende Ungleichheit, die Folgen des Klimawandels, Verteilungskämpfe um Trinkwasser, Bodenschätze, fossile Energieträger und nicht zuletzt die kaum überstandene Weltwirtschaftskrise machen die Notwendigkeit von politischen Alternativen unübersehbar. Aber wo können die Denkanstöße heute herkommen? Wer ist in der Lage, neue Gesellschaftskonzepte so zu kommunizieren, dass die Ideen zu einer materiellen Gewalt werden?

Auf eine Reihe von vormals verlässlichen Bastionen kritischen Denkens ist immer weniger Verlass. Parteien und Gewerkschaften haben längst darauf verzichtet, in einem nennenswerten Umfang eigene Geistesarbeiter heranzubilden. An den Universitäten sieht es nicht sehr viel besser aus. Auch Sozial- und Geisteswissenschaftler sind heute in der Regel zu sehr in den Alltagsbetrieb und in Karrierezwänge eingespannt, als dass diese noch daran denken könnten, sich öffentlich einzumischen. Zwischen Lehrverpflichtungen, Drittmitteleinwerbung, Gremienarbeit und wissenschaftsinternen Publikationszwängen verlieren sie beinahe zwangsläufig den Blick für die großen Zusammenhänge.

Und wie sieht es bei den Journalisten aus? Wer von den Erträgen dieses eigentlich schönen Berufs anständig leben will, steht in den meisten Medien unter einem großen Konformitätszwang. Es ist daher nicht allzu überraschend, dass sich gerade unter den besonders talentierten, fleißigen und ehrgeizigen Journalisten vorwiegend solche finden, die sich auf die Seite der Konzerninteressen schlagen. Wirklich innovative Ideen oder fortschrittliche gesellschaftliche Entwürfe sucht man bei ihnen jedenfalls meist vergeblich.

Radikale Anstöße für die notwendigen Debatten über die Zukunft unserer Gemeinwesen kommen dagegen wieder vermehrt von Schriftstellern. Ihnen kommt dabei entgegen, dass die neoliberale Hegemonie mittlerweile erste Risse bekommen hat. Innenpolitisch ist mit der Linkspartei zudem eine Kraft entstanden, die das sozialdemokratische Erbe angetreten hat und die öffentlichen Foren für kritisches Denken deutlich vermehrt. Mit dem Aufwind, den sowohl die globalisierungskritische Bewegung als auch die parteipolitische Linke seit einigen Jahren erfahren, werden ihre Themen auch von den großen Medien wieder aufgegriffen.

Die Ratlosigkeit vorgeblicher Experten angesichts der Weltwirtschaftskrise hat diese Tendenz noch befördert. Schriftsteller werden wieder häufiger eingeladen, das Für und Wider politischer Vorschläge aus ihrer Sicht zu kommentieren und eigene Impulse zu geben. Sie sind keine Experten, die zahlenden Auftraggebern Gutachterwissen präsentieren, sondern Bürger, die das allgemeine Wohl im Auge haben. Die Spielräume für kritische Interventionen sind wieder etwas größer geworden.