Unheilvolle Gedächtnisspuren

Auch Wunden der Seele brauchen mehr als Zeit

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 6 Min.
... das Hirn hätte sich gemerkt, dass Rosen, für sich genommen, keine Gefahr darstellen Foto:Judywie/photocase.com
... das Hirn hätte sich gemerkt, dass Rosen, für sich genommen, keine Gefahr darstellen Foto:Judywie/photocase.com

Schockierende, seelisch schmerzhafte Erlebnisse können Menschen tief verletzen und nachhaltig beeinträchtigen. »Das war echt traumatisch« – wie leicht redet man so, wenn einem Übles widerfahren ist. Doch meist irrt der Volksmund. »Nicht alles Schlimme im Leben führt zu einem seelischen Trauma«, sagt der Mediziner und Psychoanalytiker Günter Seidler, der als Professor für Psychosomatische Medizin die Sektion Psychotraumatologie an der Universitätsklinik Heidelberg leitet.

Ein Trauma bilde sich nur dann heraus, »wenn ein Mensch in Lebensgefahr gewesen ist und Todesangst erlebt hat«. Traumatisiert werden könne aber auch, wer hilflos Tod oder Sterben bei anderen beobachtet und dabei existenzielle Angst erlebe. Die Gefühle Hilflosigkeit und Todesangst sind Seidler zufolge »unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass sich ein Trauma entwickeln kann«.

Bei dem, was ein Psychotrauma im Hirn hinterlässt, handele es sich »natürlich nicht um Wunden, sondern um Gedächtnisspuren«, sagt Martin Bohus, der als Lehrstuhlinhaber für Psychosomatik die Trauma-Forschung am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim leitet. »Da unser emotionales System in einer Zeit entwickelt wurde, in der es innerhalb eines kurzen menschlichen Lebens relativ wenig Veränderungen gab, ist es nicht verwunderlich, dass intensive Erfahrungen von körperlicher oder sozialer Bedrohung sehr genau und auch sehr lange gespeichert werden.«

In aller Regel tue der Mensch gut daran, derart Schrecken erregende Situationen in Zukunft zu meiden – sofern das möglich ist. Doch ein Lokführer, der einen so genannten Selbstmörder überfahren hat, muss irgendwann wieder auf die Lok zurück – oder den Beruf wechseln.

Die Frage ist, was daran biologisch sinnvoll sein soll, dass selbst ein einmaliges schreckliches Erlebnis über viele Jahre und oft sogar ein Leben lang im Hirn wirksam verankert wird. Wäre es nicht besser, wir vergäßen es einfach? Doch hier erhebt Bohus Einspruch: »Es ist wichtig, gerade unerwartete, einmalige Ereignisse und deren Vorzeichen genauestens abzuspeichern, damit dies in Zukunft vermieden werden kann«, urteilt der Trauma-Experte.

In aller Regel bearbeite das Gehirn das betreffende Geschehen im Laufe der darauf folgenden zwei Wochen weiter, indem es sich das Ereignis sozusagen immer wieder vorlegt, also erinnert. So kann es noch einmal prüfen, ob die abgespeicherten Informationen überhaupt wichtig genug sind, um auf Dauer präsent zu sein. »Ist dies nicht der Fall, dann relativiert das Gehirn die Bedeutung des einmaligen Ereignisses und wird erst dann wieder Alarm schlagen, wenn genau die gleichen Bedingungen erneut auftreten«, sagt Bohus. »Wir behalten also immer eine Gedächtnisspur, diese allerdings wird in aller Regel nicht mehr abgerufen.« Solche Spuren steuerten unser Verhalten »höchstens unbewusst«.

In manchen Fällen aber schafft es das Hirn nicht, die Geschehnisse in den ersten Wochen nach dem auslösenden Ereignis neu zu bewerten. »Dann genügen auch kleine, unspezifische Auslöser, um die Ereignisse mit aller Wucht wieder zu aktivieren«, erklärt der Psychosomatiker das Wesen des Psychotraumas. Welche Mechanismen genau dafür sorgen, dass dies nicht als Erinnerung, sondern als reales Wiedererleben geschieht, sei »noch unklar, aber wir forschen daran«.

Wie aber soll man sich vom Trauma hinterlassene Gedächtnisspuren im Hirn am besten vorstellen? »Durch ein traumatisches Erlebnis werden Nervennetzwerke im Hirn anders miteinander verkoppelt als üblicherweise«, befindet Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Uniklinik Göttingen. Gemeint sind Netzwerke, die dafür zuständig sind, Gerüche, Geräusche, Gesehenes, Berührungen und andere sensorische Eindrücke während eines Geschehens wahrzunehmen und mit Körperempfindungen zu verkoppeln – zum Beispiel mit Angstschweiß oder einem schnelleren Puls.

Wird zum Beispiel eine Frau vergewaltigt, erlebt sie ihre Lage als ausweglos und empfindet Angst und Panik. Gleichzeitig verarbeitet ihr Hirn Sinneseindrücke – etwa den Geruch des Vergewaltigers, den Klang seiner Stimme oder Berührungsreize, ausgelöst davon, wie und wo er sie berührt. Das Hirn der Frau verbindet nun diese Sinneseindrücke mit der dabei aufkommenden Panik und daran gekoppelten Körperreaktionen, beispielsweise mit Herzrasen und heftiger Muskelanspannung.

»Das alles läuft sehr schnell ab, ohne dass wir dabei noch nachdenken können«, fügt der Hirnforscher hinzu. »Anders als sonst ist der Hippocampus – also jener Hirnteil, der Informationen zeitlich und räumlich sortiert –, nicht daran beteiligt, die Flut von Sinneseindrücken miteinander zu verkoppeln; er wird quasi umgangen.« Dadurch aber werden die dramatischen, überlebenswichtig erscheinenden Eindrücke unmittelbar aneinandergehängt und so abgespeichert.

»Wenn die vergewaltigte Frau dann irgendwann einmal wieder einen ähnlichen Geruch in die Nase bekommt wie während des Missbrauchs, dann ist sie quasi wieder im alten Film«, schildert Hüther das Problem. Eine ähnliche Stimme wie die des Vergewaltigers, ein ähnlicher Raum oder eine ähnliche Umarmung wie während des Missbrauchs lösen dann wieder Panik aus und lassen den Puls neuerlich losjagen und die Frau verspannen.

Wäre hingegen der Hippocampus am Verarbeiten der Sinneseindrücke beteiligt gewesen, hätte ein zufällig am Ort des Verbrechens wahrgenommener Rosenduft oder ein zufällig zur selben Zeit im Radio abgespieltes Lied im späteren Leben der Frau keine Panik auslösen können. Das Hirn hätte sich – vereinfacht gesprochen – gemerkt, dass Rosen und Lieder, für sich genommen, keine Gefahr darstellen.

Unheilvolle Gedächtnisspuren wieder aufzulösen, ist nicht einfach. Im Falle von Psychotraumen »heilt die Zeit allein keine Wunden, sondern Heilung ist nur dann möglich, wenn der oder die Betreffende nach einer Traumatisierung neue, bessere Erfahrungen machen kann – oder aber glückliche Umstände ermöglichen das von alleine«, sagt Hüther.

So hat eine vergewaltigte Frau vielleicht später doch noch einmal Kontakt zu einem liebevollen Mann – womöglich sogar ein zweites oder drittes Mal. Dann wird das Erlebnis eines schrecklichen Sexualaktes, das im Hirn an sehr negative Emotionen gekoppelt ist, nunmehr von angenehmen Gefühlen überlagert. »Und je öfter das geschieht, desto stärker wird diese neue, positive Erfahrung im Hirn verankert«, betont der Göttinger Neurobiologe. Verläuft dieses Umlernen günstig, bestimmen die guten Erfahrungen am Ende, wie die Frau Geschlechtsverkehr bewertet – auch wenn die alte Kopplung dadurch nicht völlig aufgelöst wird.

»Wenn man Glück hat, kann dies ohne Therapie gelingen«, sagt Hüther. »Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, falls man in einem liebevollen Umfeld lebt.« Meidet die Frau im Beispiel aber den Kontakt zu Männern, weil sie befürchtet, wieder in eine Auslösesituation für ihr Trauma zu geraten, dann sei therapeutische Kompetenz gefordert, um ihr überhaupt wieder den Kontakt zu Männern zu ermöglichen. Zwar könne auch der Therapeut die Patientin nicht von alleine heilen, »aber er kann ihr Mut machen und sie einladen, sich auf eine neue Erfahrung einzulassen«.

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