nd-aktuell.de / 05.02.2011 / Kultur / Seite 25

Das bleibt der Riss in der Zeit

Besuch in Zürich – Gespräch an der Wiege einer Antikunst

Zürich, Spiegelgasse 1: Hier wurde am 5. Februar 1916 das Cabaret Voltaire eröffnet und der Dadaismus begründet. Von hier aus schwärmte Dada in die Welt. Über Gründung, Geschichte und Gegenwart der Anti-Kunst sprach BURGA KALINOWSKI mit dem Kunsthistoriker und Hüter des Dada-Hauses, ADRIAN NOTZ.
ND: Dada wird 95. Wie hat es angefangen?
Notz: Eigentlich aus einer Notlage, in der sich der Schriftsteller Hugo Ball und seine Lebensgefährtin, die Kabarettistin Emmy Hennings, befanden. Vom deutschen Kriegswinter 1915 ins Zürcher Exil getrieben, müssen sie Geld verdienen. Sie machen eine Künstlerkneipe auf und eröffnen am 5. Februar 1916 das Cabaret Voltaire. Es war die Geburtsstunde von Dada. Mit dabei waren Hans Arp – später wird Richard Huelsenbeck dazustoßen – und die Maler-Brüder Marcel und Jules Janco (als Arthur Segal bekannt), der Schriftsteller Tristan Tzara sowie ein unbekannter Herr, über den spekuliert wird, es könnte Lenin gewesen sein.

Könnte ...
Es gibt keine Belege, weil Lenin anonym im Cabaret Voltaire gewesen ist und sich sogar verkleidet haben soll. Also, es ist wahrscheinlicher, dass er hier war, als dass er nicht hier war, weil er ja 50 Meter nebenan wohnte. Lenin mochte Kabaretts. Und wenn er nicht über den Imperialismus geschrieben hat, ist er sicher auch ins Cabaret Voltaire gekommen.

Interessiert Dada heute überhaupt noch?
Ja, Dada interessiert immer wieder. Es hat die ganze Kunst des 20. Jahrhunderts massiv mitbestimmt. Wenn man sich Techniken anschaut, zum Beispiel die Idee der Collage oder Simultangedichte, Lautgedichte, Publikumsbeschimpfungen usw. Historisch betrachtet, gab es immer Bewegungen, die sich auf Dada bezogen haben: Die Surrealisten, Pop-Art, die Beatgeneration, Punk. Und auch heute merken wir in unserer Arbeit mit zeitgenössischen Künstlern, dass Dada ein sehr lebendiges Thema ist und mit der Finanzkrise eine neue Bedeutung gewonnen hat. Übrigens haben politisch linksorientierte Menschen viel eher einen Bezug zu Dada, aber es gibt auch Seiten von Dada, die rechts sein können. Walter Mehring hat allerdings gesagt: Dada ist weder links noch rechts, sondern vertikal.

Ist Dada aus den Rissen der Gesellschaft entstanden?
Dada ist der Riss in der Gesellschaft. Die grundsätzliche Idee der Dadaisten war, sich gegen die damalige Gesellschaft, gegen den Krieg, gegen die damalige Zivilisation aufzulehnen – gegen den Wahnsin der Zeit. Man kann sagen, Dada ist Antikunst. Aber gleichzeitig haben viele Künstler mitgearbeitet, Neues entwickelt. Es ist immer ein Dagegen, aber auch ein Dafür.

Wie entstand der Name?
Ich weiß nicht, welche Geschichte wahr ist. Die von Hans Arp mit dem Holzpferdchen, das auf Französisch Dada heißt. Oder die von den Rumänen Janco und Tzara: Ja Ja heißt auf Rumänisch dada. Dann wird kolportiert, dass Emmy Hennings zu Hugo Ball sagte, wenn sie spazieren gehen wollten: Lass uns dada gehen. Und aus dem Jahr 1906 gibt es Werbung für ein Produkt namens Dada. Da kann man sagen, Dada war da, bevor Dada da war.

Wie kam es zu dem Namen Voltaire?
Hugo Ball spricht einmal davon, dass Voltaire ihr Kant sei. Voltaire mit seinem aufklärerischen Geist passt gut zur Anti-Haltung.

Was treibt Dada heute an?
Protest. Es geht wieder um Sinnsuche und Authentizität.

Was könnte man heute unter Dada verstehen?
Lady Gaga würde ich als Dadaistin bezeichnen.Und wenn man schaut, wie Marilyn Manson seine Figur aufbaut oder wie Lady Gaga das macht, dann ist das nicht einfach plumpe Provokation, sondern spielt mit zeitgenössischen Tendenzen. Manson ist in dem Sinne schon vorbei, aber Lady Gaga verkörpert Zeitgeist.

Ist bei Lady Gaga die Provokation nicht auch schon vorbei und sie nur ein Verkaufskonzept?
Ja, das war es damals auch. Man hatte Studenten hier, Leute, die sich betrinken und nackte Frauen tanzen sehen wollten, und da haben sie auf der Bühne über Kunst geredet. Das hat provoziert. Später kamen keine Studenten mehr, sondern feine Leute: Anstatt zu einem klassischen Konzert ging man zu einer Dada-Soiree und ließ sich ein bisschen provozieren. So ist es heute auch.

Wie feiern Sie Geburtstag?
Wir feiern ihn in Moskau. Wir bringen Dada nach Moskau, weil es dort keinen Dada gab.

Was ist hier im Cabaret Voltaire noch authentisch?
Es gibt da hinten im Saal eine Säule. Oder die Wände, aber die waren damals verdeckt. Also in dem Sinne gibt es nichts total Authentisches – oder alles ist authentisch.

Der Genius Loci.
Genau.

Adrian Notz
Adrian Notz