»Agnes« wird jetzt zur Fallmanagerin

AOK-Nordost-Vorstand Frank Michalak will Berliner Ärzte tageweise aufs Land schicken

  • Lesedauer: 9 Min.
Nach ersten Berufsjahren bei den AOK in Ennepe-Ruhr und Brandenburg wurde der Krankenkassenfachwirt Frank Michalak (Jahrgang 1956) 2006 AOK-Vorstandsvorsitzender in Brandenburg, 2010 in Berlin-Brandenburg und 2011 in der mit Mecklenburg-Vorpommern fusionierten AOK Nordost. Frank Michalak arbeitet als eherenamtlicher Richter am Bundessozialgericht. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und immer noch Zeit, als Übungsleiter mit Jugendlichen auf dem Fußballplatz zu stehen. Mit dem leidenschaftlichem Sportfan sprach Silvia Ottow über die Situation der Krankenkassen, Zusatzbeiträge und die Visionen der AOK Nordost.
ND: Wann wird die AOK Nordost Zusatzbeiträge von ihren Versicherten erheben müssen?
Michalak: Nach der derzeitigen politischen Ausrichtung werden über kurz oder lang 80 Prozent aller Krankenkassen zu Zusatzbeiträgen gezwungen sein. Als AOK Nordost haben wir unseren Haushalt für dieses Jahr ohne Zusatzbeitrag geplant. Irgendwann werden auch wir nicht umhinkommen.

Die Krankenkassen haben vor kurzem finanzielle Überschüsse bekannt gegeben. Sind da nicht Zusatzbeiträge überflüssig?
Hier sind zwei Punkte zu unterscheiden: Die aktuelle Anpassung des allgemeinen Beitragssatzes zum Januar war ein unausweichlicher Schritt, um das strukturelle Elf-Milliardendefizit in der gesetzlichen Krankenversicherung aus dem vergangenen Jahr zu schließen. Die angesprochenen Überschüsse entstehen kurzfristig auf Grund der konjunkturellen Belebung, davon profitieren die Kassen nicht direkt. Wenn mehr Geld im Gesundheitsfonds ist, geht das ausschließlich in die Reserve. Wir können nur mit dem Geld arbeiten, das uns zum Anfang des Jahres zur Verfügung gestellt wurde. Die Einnahmen des Jahres 2010 sind die Grundlage für die Zuweisungen an die Kassen im Jahr 2012. Mit der Konstruktion der neuen Zusatzbeiträge wurde allerdings die politische Richtung eingeschlagen, dass zukünftige Kostensteigerungen einseitig von den Versicherten bezahlt werden müssen.

Wie beurteilen Sie das?
Mir wäre es lieber, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Ausgaben paritätisch teilen.

Fürchten Sie nicht, dass ihnen die Versicherten im Falle der Erhebung von Zusatzbeiträgen in Scharen wieder weglaufen?
Wie die Mitgliederbewegung anderer Kassen zeigen, ist der Zusatzbeitrag natürlich ein Argument für den Wechsel. Aus Kundenanalysen wissen wir jedoch, dass nicht alle wegen der Zusatzbeiträge wechseln, sondern auch Service und Ortsnähe eine wichtige Rolle spielen.

Wie viele Versicherte sind in der letzten Zeit in Ihre Kasse gewechselt?
92.000 Kunden waren es im Jahr 2010, davon 66.000 in Berlin und Brandenburg sowie 26.000 in Mecklenburg-Vorpommern.

Werden die Vorstände nach der Zahl der Versicherten bezahlt?
Grundlage dafür sind Empfehlungen der Politik, die Zahl der Versicherten ist dabei ein Kriterium.

Die Politik empfiehlt auch, dass die gesetzlichen Kassen über ihr Angebot in den Wettbewerb treten sollen. Ist das der richtige Weg?
Wettbewerb um besten Service und hohe Versorgungsqualität ist grundsätzlich der richtige Weg. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Mittel aus dem Gesundheitsfonds dorthin fließen, wo sie wirklich gebraucht werden. Es gibt ja Kassen, die relativ viele junge Gesunde versichert haben und es gibt Kassen mit einem relativ hohen Altersdurchschnitt und zahlreichen chronisch kranken Versicherten. Um einen gesunden Versicherten zu betreuen, brauche ich weniger Geld. Dagegen müssen ausreichend Mittel für die Versorgung kranker Menschen eingesetzt werden.

Was sind Ihre Visionen für die AOK Nordost?
Unser wichtigstes Ziel ist die Versorgung der Menschen in den drei Bundesländern nicht nur sicherzustellen, sondern auch über die Ländergrenzen hinweg zu verbessern. In Brandenburg haben wir beispielsweise das Gesundheitsprogramm AOK-Junior gemeinsam mit dem Verband der Kinder- und Jugendärzte entwickelt, das wir erst auf Berlin ausgeweitet haben und in Kürze auch in Mecklenburg-Vorpommern anbieten werden. Dabei legen wir großen Wert auf zusätzliche, kostenfreie Vorsorgeuntersuchungen für Kinder und Jugendliche von AOK-versicherten Familien, um Gesundheitsprobleme von morgen bereits heute zu vermeiden. Eine weitere Aufgabe wird es sein zu überlegen, wie wir die Überkapazitäten in der Versorgungsstruktur in Berlin nach Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern bringen können.

Wie soll das gehen?
Da gibt es viel versprechende Ansätze. Wir haben erfahren, dass sich der ein oder andere Arzt aus Berlin durchaus vorstellen kann, für ein paar Tage in der Uckermark zu praktizieren.

Wie früher der Bibliothekswagen rollt dann der Arztwagen durch die Dörfer?
Wie wir es organisieren, ist noch die Frage. Wir haben mit Medizinern großer Berliner Krankenhäuser gesprochen. Kollegen in Elternzeit könnten sich durchaus vorstellen, tageweise in Hausarztpraxen auf dem Land aktiv zu sein. Wir planen dazu Modellversuche zu initiieren. In einer Region, in der die Menschen im Durchschnitt 65 Jahre alt sind, müssen alle Partner im Gesundheitswesen bereit sein, über neue Versorgungsformen nachzudenken. In bestimmten Regionen werden Sie aufgrund der Infrastruktur einfach keinen jungen Arzt und seine Familie hinbekommen.

Was ist leichter zu regulieren? Überversorgung oder Unterversorgung?
Schwer zu sagen. Auch in überversorgten Regionen wie Berlin fehlt in einigen Stadtteilen der eine oder andere Facharzt. Dort kann der Patient durch die bessere Infrastruktur aber einfach zum nächsten Arzt ein oder zwei U-Bahnstationen entfernt fahren. Auf dem Land fährt in einigen Gegenden nur zweimal am Tag ein Schulbus. In diesem Spagat bewegen wir uns und müssen nach Lösungen suchen.

Macht Ihnen der Umgang mit Milliarden Euro Angst oder Spaß?
Weder noch. Ich bin zwar ein Zahlenmensch, aber bei einem Haushalt von 6,3 Milliarden Euro bedeutet bereits ein Prozent eine Summe von 63 Millionen. Das heißt, wir müssen gut wirtschaften, denn wir sind nicht auf hohen Reserven gebettet, sondern immer nah an der schwarzen Null.

Die privaten Kassen bekommen ja die Aufwendungen für den Basistarif für ihre arbeitslosen Versicherten und haben auch sonst einige Vorteile zugeschanzt bekommen. Sollen am Ende alles Kassen privat werden?
Ich würde den Trend andersherum sehen. Es läuft vieles auf die gesetzliche Krankenversicherung hinaus. Nehmen Sie nur das Beispiel der Rabattverträge. Hier haben wir die Möglichkeit, für bestimmte Medikamente mit den Herstellern Rabatte auszuhandeln. Wenn die Private Krankenversicherung (PKV) nun darauf angewiesen ist, davon ebenfalls zu profitieren, sagt das schon einiges über das von der Branche hochgehaltene Geschäftsmodell aus. Ich denke, es läuft insgesamt darauf hinaus, dass das Geschäft mit den Zusatzversicherungen das Kern-Geschäft der PKV sein könnte.

Trotzdem hat man den Eindruck, dass es der Politik um die Stärkung der PKV geht.
Natürlich wäre eine Stärkung der GKV aus meiner Sicht angebrachter.

Glauben Sie, dass die vielfach kritisierten Rabattverträge der Kassen mit den Pharmaproduzenten Bestand haben werden?
Ich gehe davon aus. Bei den Ausschreibungen geben mittlerweile fast alle großen Generikaanbieter ihre Angebote ab. In den Apotheken funktioniert das auch zu 98 Prozent reibungslos. Insgesamt ist der Markt in Bewegung gekommen. So zahlen wir für manche Medikamente 80 Prozent weniger. Die Rabattverträge sind ein erprobtes Instrument, um die immensen Arzneimittelausgaben ohne Qualitätsverluste zu bremsen. Aus meiner Sicht ist es sinnvoll, die Gewinnmargen der Pharmaindustrie zu schmälern. Davon profitieren am Ende wiederum auch die Versicherten.

Das hätte auch weniger aufwendig laufen können, etwa mit einer Positivliste.
Wenn die Politik das nicht hinbekommt, muss man andere Wege finden. Und es ist ja nicht so, dass durch die Rabattverträge Pharmafirmen vom Markt verschwunden wären. Die existieren alle noch und schreiben gute Gewinne.

Gibt es viele Fälle, in denen Versicherte die Rabattarznei ablehnen?
Natürlich haben Patienten mitunter Fragen, wenn die Packung kleiner ist oder sich die Farbe der Tabletten ändert. Wir haben den Versicherten aber vernünftig erklärt, was auf sie zukommt. Es ist unser Bestreben, die Rabattverträge für möglichst lange Zeit abzuschließen, so dass sich der Patient nicht jedes Jahr umstellen muss. Richtige Problemfälle können wir an einer Hand abzählen. Deshalb können wir von der neu eingeführten Mehrkostenregelung nur dringend abraten. Denn das wird für die Versicherten relativ teuer, wenn sie sich vom Apotheker ein anderes Medikament aushändigen lassen. Sie müssen finanziell in Vorleistung gehen und die Erstattung bei der Kasse beantragen. Dann kommt das böse Erwachen, denn es entstehen neben den mitunter erheblichen Mehrkosten für das Medikament mit dem selben Wirkstoff und ohne bessere Qualität auch Verwaltungskosten. Wenn es medizinische Gründe gibt, konnte der Arzt schon immer auf dem Rezept „aut idem“ durchstreichen und ein bestimmtes Medikament verschreiben. Daran hat sich nichts geändert.

Sie werben mit guter Erreichbarkeit und betreiben viel Servicecenter. Sind Ihre Verwaltungskosten hoch?
Mit unseren Verwaltungskosten liegen wir prozentual zwar etwas höher als eine nur über Internet erreichbare Kasse. Das liegt aber nicht an unserem guten Service als Krankenkasse vor Ort, sondern an unserer Versichertenstruktur. Hier gibt es bei der Verteilung der Mittel aus dem Gesundheitsfonds dringenden Änderungsbedarf, denn um alte und kranke Versicherte muss sich eine Kasse intensiver kümmern - auch was den Service vor Ort betrifft - und benötigt mehr Geld. Für kranke Menschen bekommen wir derzeit zu wenig.

Würden Sie Praxisgebühren und Zuzahlungen abschaffen?
Ich glaube, dass es bestimmte Regularien geben muss. 18 Arztbesuche pro Patient im Jahr, wie es in Deutschland Durchschnitt ist, halte ich für überzogen. Viele Arztbesuche sind einfach unnötig. Es gibt Patienten, die verlangen die Erstattung von 150 Euro an Praxisgebühren im Jahr, weil sie ohne ärztliche Überweisung von einer Praxis zur nächsten gewandert sind. Wer allerdings chronisch krank ist, wird von Zuzahlungen befreit.

Deuten häufige Arztbesuche nicht auch auf Strukturmängel, muss man vielleicht zu lange suchen?
Das würde ich nicht überbewerten. Hier wird allerdings deutlich, wie sinnvoll der Hausarzt als Lotse ist. Nach meiner Einschätzung erfüllt der Gang zum Arzt gerade für ältere und vielleicht einsame Menschen oft auch eine soziale Funktion. In Brandenburg versuchen wir mit dem Projekt „Agnes zwei“ hier Strukturen zu verbessern. Die Nachfolgerin des Modellprojektes Agnes soll hier als Fallmanagerin helfen, die Ärzte zu entlasten und auch etwas mehr Zeit haben, sich um den Patienten zu kümmern.

Wie stellen Sie sich die Finanzierung der Pflegeversicherung in der Zukunft vor?
Der Aufbau einer Kapitallebensversicherung ist zum Glück vom Tisch. Ich denke, die Grundversorgung wird auch in Zukunft abgesichert sein. Die Pflegeversicherung als jüngster Zweig der Sozialversicherung war nie als Vollkasko-Versicherung angelegt. Private Vorsorge wird deshalb auch in Zukunft notwendig sein. Wir müssen abwarten, welche Vorschläge die Politik jetzt macht.

AOK Nordost

Etwas mehr als einen Monat alt ist die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) Nordost, zu der sich die AOK Berlin-Brandenburg und die AOK Mecklenburg-Vorpommern zusammenschlossen. In den vergangenen Monaten gewann sie tausende Mitglieder hinzu, weil deren frühere Kassen Zusatzbeiträge erhoben. Mit 1,8 Millionen Versicherten ist sie nun die zehntgrößte gesetzliche Krankenkasse, ihr Haushaltsvolumen umfasst 6,31 Milliarden Euro. Sie erhebt (noch) keine Zusatzbeiträge, beschäftigt 5900 Mitarbeiter und betreibt 112 Servicecenter. ND


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