nd-aktuell.de / 07.02.2011 / Kultur / Seite 16

Der Ungehorsam

Theodor Fontanes Romanwerk »Vor dem Sturm«

Klaus Bellin

Er war beinahe sechzig, aber er stand erst am Anfang. Auch auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen, erklärte er 1878 seinem Verleger Wilhelm Hertz: »Nichts liegt hinter mir, alles vor mir; ein Glück und ein Pech zugleich. Auch ein Pech. Denn es ist nichts Angenehmes, mit 59 als ein ›ganz kleiner Doktor‹ dazustehn.« Da hatte er schon eine Menge veröffentlicht, Gedichte, auch einen Großteil der »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«, Reise- und Kriegsberichte, zuletzt, verfasst für die »Vossische Zeitung«, auch noch Theaterkritiken. Das alles kam ihm inzwischen wie ein Vorspiel vor, denn die größten Herausforderungen warteten noch.

Fontane war dabei, sich als Epiker zu beweisen. Seinen ersten Roman, begonnen vor langer Zeit, hatte er immer wieder vor sich hergeschoben, liegen gelassen, irgendwann um ein paar Seiten vermehrt, erneut unterbrochen, neu angesetzt und schließlich in den letzten Jahren, sogar mit heller Freude, vollendet. Nun, ungefähr anderthalb Jahrzehnte nach den ersten Sätzen, war das Werk, sein »Schmerzenskind«, endlich fertig. Es hieß auf Vorschlag des Verlegers »Vor dem Sturm«, bestand aus vier Bänden und erschien nach einem Zeitschriften-Vorabdruck Ende Oktober 1878 in zwei Büchern.

Der Roman, nie übergangen, aber auch nie wirklich populär geworden, blieb stets im Schatten der großen Fontane-Schöpfungen. Man las »Stine«, »Irrungen, Wirrungen« oder »Frau Jenny Treibel«, besonders gern natürlich »Effi Briest« und ließ das noch mit Schwächen beladene Erzähldebüt meistens aus. Der bessere, der wunderbar souveräne Fontane, natürlich, kam erst danach, und doch ist die Kraft des Romanciers, sein herrlicher Blick für Figuren und Geschichten schon in diesem Auftakt zu spüren. Jetzt, da uns der Aufbau-Verlag eine besonders schöne, von Christine Hehle grundlegend edierte Ausgabe schenkt, kann man sich davon leicht selber überzeugen.

Fontane hatte Proben seines Erzählvermögens längst geliefert, als er sich 1863 hinsetzte, um den Anfang des Romans aufs Papier zu bringen. Da war gerade ein neuer Band seiner »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« erschienen, das Buch über das Oderland, die Beschreibung ungepflasterter Wege, alter Dörfer, Flecken, Kirchen, Güter und der Menschen, die das Bruch bevölkern, durchsetzt mit hingetupften Anekdoten und großartigen Geschichten, darunter, im Küstrin-Kapitel, der schrecklichen Katte-Tragödie.

Mit seinem Roman kehrte er in die Landschaft zurück, mischte Realität und Fiktion und ließ dennoch zu, dass man Orte und Straßen mühelos wiederfinden kann, sogar heute noch, holte auch Figuren in sein Werk, die er eben erst bewundernd porträtiert hatte. Aus Friedersdorf wurde nun Hohen-Vietz, und dem hochgeschätzten konservativen Junker Ludwig von der Marwitz überließ er als Berndt von Vitzewitz den Part des Romanhelden.

Es wurde eine breit dahinströmende (von Weitem an Tolstois »Krieg und Frieden« erinnernde) Geschichte aus dem bewegten Winter 1812/13, als die Reste der zerriebenen Armee Napoleons nach Preußen zurückkamen und sich ein paar adlige Männer, an ihrer Spitze der opponierende Gutsbesitzer und Schlossherr Vitzewitz, in einer tollkühnen Aktion den Besatzern entgegenwerfen. Die Freischärler handeln auf eigene Faust, sie verweigern dem zögerlichen König und dem Reformminister Hardenberg den Gehorsam, denn beide halten noch immer zu Napoleon, und am Ende, wenn sie sich todesmutig und unter beträchtlichen Verlusten auf eine ausgeruhte französische Reservetruppe stürzen, scheitern sie auf dramatische Weise.

Der Roman, der am Weihnachtstag 1812 einsetzt, ausufernder als das übrige Erzählwerk, hat Längen und Durchhänger, was schon Zeitgenossen wie Fontanes Kollege Paul Heyse monierten. Noch waltet hier nicht die sichere, strenge Regie des Meisters, er verliert auch schon mal Figuren, die er irgendwann eingeführt hat, völlig aus den Augen, und doch ist dies ein reizvolles Epos geworden, ein Bilderbogen mit preußischen Junkern und märkischen Originalen, der von der intimen Kenntnis der Oderlandschaft und der Geschichte profitiert, viel besser als sein Ruf und farbiger, als mancher den Lesern einst weismachen wollte.

Es gibt, wie von Fontane versprochen, Abenteuer, Brände und Leidenschaften, Königstreue, Preußen- und Franzosenhasser, vor allem aber lebt das Buch von Figuren wie dem abergläubischen, hexenhaften Hoppenmarieken, einer etwas rätselhaften und zugleich handfesten Händlerin, Hehlerin und Diebin, oder dem Pastor Seidentopf, der im Dorf emsig den Krieg gegen die Franzosen predigt. Dazu holt Fontane, wie Tolstoi es schon vormachte, das historische Personal in seine Geschichte, den preußischen König, Napoleon, Hardenberg, Savigny oder Fichte.

Mit dem Romanerstling »Vor dem Sturm« ist die von Gotthard Erler herausgegebene Große Brandenburger Ausgabe ein weiteres Mal gewachsen. Die Edition, in der nun das erzählerische Werk beinahe komplett vorliegt und die uns in absehbarer Zeit hoffentlich auch noch mit den autobiografischen Schriften, der Publizistik und den sehnlichst erwarteten Briefen beglücken wird, ist das beste, was man in Sachen Fontane heute haben kann, unübertroffen in der Kommentierung, auch in der Ausstattung ein ästhetischer Genuss, zu danken dem großartigen Buchgestalter Heinz Hellmis.

Wer Fontane in diesen exquisiten Bänden liest, ist im Vorteil. Sie bieten durchweg zuverlässige, penibel überprüfte Texte, die auf Handschriften oder erste Drucke zurückgreifen (im Fall der »Mathilde Möhring« mit ihrer problematischen Editionsgeschichte gibt es hier sogar erstmals eine gesicherte Fassung, die den fragmentarischen Charakter des Romans bewahrt), und sie glänzen mit üppigen Informationen und Erläuterungen am Schluss.

Auch hier, im Kommentar zu den neuen Bänden, bietet Christine Hehle alles auf, was den Zugang zum Roman erleichtert und die Lektüre vertieft. Sie beleuchtet den historischen Hintergrund und dokumentiert die lange Entstehungsgeschichte, die Überlieferung und die Wirkung des Buches, und natürlich gibt der umfangreiche Anmerkungsapparat reiche Auskünfte zum Text.

Im Januar 1878, als die ersten Reaktionen auf den Fortsetzungsabdruck in der Zeitschrift »Daheim« bekannt wurden, sprach Fontane leicht enttäuscht von freundlichen, aber »temperirten, lauwarmen« Urteilen und fügte hinzu: »Man muß zufrieden sein, wenn das Publikum im Ganzen genommen seine Zustimmung ausspricht; und darauf rechne ich einigermaßen.« Er hoffte nicht ganz vergebens. Enttäuschungen freilich blieben nicht aus. Richtig verstanden fühlte er sich eigentlich nur von Julius Rodenberg, dem Herausgeber der »Deutschen Rundschau«, der in seiner Rezension prononciert auf die Stärken des Autors einging. Vorher jedoch, im Tagebuch, hatte Rodenberg, gequält und missgelaunt, von einem »albernen Buch« gesprochen, an dem er wochenlang gewürgt habe.

Fontane hat es zum Glück nie erfahren.

Theodor Fontane: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. Herausgegeben von Christine Hehle. Aufbau Verlag. Band 1 und 2: 602 S. und 626 S., geb., 68 €.