nd-aktuell.de / 10.03.2011 / Kultur / Seite 17

Sittsam ist es, Leben zu schützen

Islam in Europa: Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami plädiert für eine Reform

Heinz Odermann
Der Ayatollah (l). auf einem Treffen mit dem EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Huber (Mitte), 2006
Der Ayatollah (l). auf einem Treffen mit dem EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Huber (Mitte), 2006

Dieses Buch kommt zur rechten Zeit, wirkt wie ein Kommentar zur aktuellen Diskussion in Deutschland, die der neue Innenminister angestoßen hat. Der höchste islamisch-schiitische Religionsführer in Deutschland stellt seine Vision eines europäischen Islam vor, seine Vorstellung muslimischen Lebens in Deutschland.

Ayatollah Seyyed Abbas Hosseini Ghaemmaghami fordert eine Reform der islamischen Dogmatik, die eine Schranke gegen die Integration der Muslime in Europa sei. Er wendet sich gegen jede buchstabengläubige Koran-Unterweisung, die den Fundamentalismus nähre, aus dem radikale Lehren und Feindschaft wachsen. Er appelliert an die Vernunft und plädiert für eine Auslegung des Heiligen Buches des Islams, des Korans, gemäß den Forderungen der Zeit angesichts von Millionen muslimischer Zuwanderer.

Ghaemmaghami begründet die Idee eines »europäischen Islams«, der die europäische Aufklärung und Kultur mit ihren Errungenschaften wie die Freiheit des Wortes und die Gewaltenteilung anerkennt. Die Bezeichnung »Muslime in Europa« lehnt er ab, da sie eine Gegengesellschaft suggeriere, Muslime ausgrenze respektive die falsche Auffassung verfestige, diese könnten in Europa so leben, wie in den Ländern ihrer Herkunft.

Die muslimischen Zuwanderer aus verschiedenen Ländern bringen unterschiedliche ethnische und nationale Traditionen mit, wie etwa die Blutrache, den Ehrenmord und die Zwangsheirat. Doch diese wie auch die furchtbare Praxis der Steinigung oder Verstümmelung von Mädchen und Frauen im Genitalbereich, ebenso wie die Ganzkörperverkleidung (Burka) oder das religiös verstandene Kopftuch seien Ausdrucksformen einer archaischen Lebensweise, die in Europa abgelehnt werde. Ghaemmaghami betont, dass der Islam von althergebrachten Vorstellungen und seinen Verzerrungen befreit werden müsse. Seine Vision eines europäischen Islam artikuliert den Willen von Muslimen, sich mit der europäischen Gesellschaft zu identifizieren. Grundsätze seiner Reformidee sind unter anderem: unbedingte Trennung der religiösen Lehre von ethnisch-nationalen Traditionen der Herkunftsländer, gleichberechtigte und gleichgestellte Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft sowie Achtung vor den Gesetzen und Lebensformen in Europa.

Der Koran war vom Propheten Mohammed vor rund 1400 Jahren, von 610 bis 632 n. Chr., in arabischer Sprache verfasst worden. Im Heiligen Buch gibt es Suren, insbesondere die achte und neunte, in denen die Gläubigen aufgefordert werden: »Bekämpft die Ungläubigen mit dem Schwert.« Ghaemmaghami distanziert sich jedoch energisch von jeder Gewaltinterpretation des Korans, die z. T. aus ungenauen Übersetzungen herrühre. Er schreibt: »Für das Wesen des Islams sprechen andere Suren, die Gewaltlosigkeit und Barmherzigkeit predigen, die dazu aufrufen, das Leben anderer Menschen zu schützen, das Verbot des Selbstmordes zu achten und einen sittlichen Lebenswandel zu führen.« Der Koran sei in der Gesamtheit seiner Aussagen zu verstehen. Ghaemmaghami beharrt auf zwei für ihn unmissverständliche Gebote: Verteidigung des Lebens und Kampf gegen das Verderben. Diese könnten, so der Ayatollah, keinesfalls als Rechtfertigung von Krieg, Terror und Verfolgung dienen.

Und doch, nicht nur in der Geschichte, wie etwa bei der blutigen Christenverfolgung im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert oder beim Völkermord von 1915/16 an den Armeniern mit mehr als zwei Millionen Toten, sondern auch in der Moderne nutzten islamische Herrscher und deren Ideologen die unterschiedlichen, gegensätzlichen Interpretationen des Korans. Iraks Diktator Saddam Hussein berief sich auf die achte Sure (Al-Anfal, Die Beute), als er seinen Vernichtungsfeldzug gegen die Kurden 1984 bis 1988 mit Hunderttausenden von Vertriebenen und Ermordeten führte. Der politische Missbrauch der Religion führte zu solch massenmörderischen Anschlägen wie am 11. September 2001 auf New York mit 3000 Toten oder Bombenanschlägen wie auf Bali, in Djerba, Madrid und London:

Der Ayatollah – im Rang dem Kardinal der katholischen Kirche vergleichbar – ruft alle islamischen Gläubigen zur Neubesinnung auf die unverfälschten Quellen des Korans auf. Er wiederholt: Der Islam strebe nach Frieden, Verständigung und Toleranz. Es sei im Sinne des Propheten, wenn Muslime, Christen, Juden und Anhänger anderer Religionen sowie Atheisten solidarisch miteinander leben und jeder ohne Hass seinem Glauben treu bleibt. Diese Streitschrift eines islamischen Aufklärers und Reformers sollte hierzulande viele Leser finden – unter Muslimen, Christen, Juden und Atheisten.

S. A. Hosseini Ghaemmaghami: Europäischer Islam oder Islam in Europa? Schiler Verlag, Berlin/Tübingen. 239 S., geb., 28 €.