Hinten der Horizont ist hoch. Er färbt sich mit der Zeit in alle möglichen schönen Farben und Dämmerungstöne. Vom Horizont hinten geht es nach vorn sehr unvermittelt hinein in eine triste Stuhl-Tisch-Wohngegend rund um ein rundes fettes Turm-Ungetüm. Ein Horizont-Vernichtungsblock. Wohnsilo-Ambiente. Endstation Sehnsucht? Nur Endstation für Blanche Du Bois, die ihre Schwester Stella besucht, schwangere Frau des polnischen Einwanderers Stanley Kowalski. Ankunft in einem Recherche-Raum. Denn Kowalski gräbt und gräbt. Bis Blanche nicht mehr jene Halbmondäne einer selbstbestimmten Lebensart ist, als die sie auftritt, sondern erkannt wird als hinausgeworfene Lehrerin, Versunkene in Halbwelthotels, aus ihrer Kleinstadt vertriebene Verführerin eines Siebzehnjährigen. Eine eingebildet Luftige landet nun, dem Mief entflohen, im Mief. Mief ist dick wie ein Kissen, das erstickt. Blanche erfindet ihr Leben immer tolldreister, gequält vom gnadenlos kalten Stanley; sie endet im Wahnsinn.
Thomas Langhoff hat »Endstation Sehnsucht« von Tennessee Williams am Berliner Ensemble inszeniert (Bühne: Andrea Schmitt-Futterer). Er saugt dem Stück den Süden aus; es schwitzt nicht. Der Jazz, der ab und zu von vier müde über die Bühne wankenden Schattengestalten herausgepresst wird, klingt vorzüglich quer und schief und unabgestimmt und also betont dilettantisch; auch dies vertreibt das schwüle Amerika aus der Aufführung. Die hat Mut zur Komödie, zur leichten Angesoffenheit, in die hinein Robert Gallinowski – ein Schauspieler in der Ambivalenz von Büchners Woyzeck und Horváths Fleischer Oskar – mächtig Bierschaum prustet.
Robert Gallinowskis Stanley ist, steht pflockig; Dagmar Manzels Blanche spielt, hüpft flockig. Baggerseele gegen Schwirrvogelgemüt. Dieser Bagger Stanley steht wuchtig wie im eigenen Eisen, das Vögelchen Blanche spielt im Käfig ihrer Seele Weltumsegelung. Aber: Es geht kein Strom von ihr zu ihm. Er rasselt, sie pfeift. Er gibt nur Vollgas im Leerlauf, das heizt die Atmosphäre zwar mächtig an, aber es bringt nichts ins Vibrieren.
Der Hass beider aufeinander ist lauernd, lümmelnd, lästernd, lähmend, lallend, alles, aber nicht lüstern. Keine Erotik aus dem tollschönsten der Gründe für Erotik: alles zu tun, um sie zu vermeiden. Zu wissen: Es ist die Katastrophe – und doch hineinspringen. Das wäre der direkteste Weg aus der Unvereinbarkeit ins Bett. Auch wenn das Stück, vor Blanches endgültigem Verrücktwerden, auf einem Bett mit Stanley endet – nichts steuerte doch auf den Wahnsinn Bett zu.
Was dann? Dagmar Manzel ist weniger eine tragisch Gebrochene, die man beweinen muss; sie bricht sich virtuos komödiantendreist Bahn in lauter schier perlendeLebenslügen, und erst im Laufe der Zeit reißt diese Rollenfolie, und wenn sie am Ende, nach einem erschütternden Irr-Rennen gegen die Wand aus lauter starren, kalten Leuten, abgeschleppt wird ins Irrenhaus, da erst weiß man die traurige Botschaft dieser Inszenierung: Jener Stumpfsinn, der Menschen aufknackt, dass ihnen die bebenden Träume vom Leben auslaufen wie Blut, dieser Stumpfsinn ist stark. Und vernichtend ist der Neid all der Stanleys, die eine Existenz leben müssen, wie man einen schweren Karren zieht, und diese Leute werden zum Henker dessen, der zwar auch nicht besser lebt, aber sich wenigstens wegträumen kann vom Deichselgriff.
Langhoff erzählt nicht das Einwandererdrama des Stanley Kowalski, das sich mit der Aus-Flucht-Tragödie der Blanche melancholisch-bitter kreuzt; er erzählt fast gleichmütig: Nirgends ist ausgemacht, dass die Dinge gut ausgehen zwischen den Menschen. Die können Menschen werden und Unmenschen bleiben. Tag wird? Ein Horizont findet sich immer? Also soll man Anlauf nehmen? Blanche nimmt diesen Anlauf, sie springt so weit wie möglich: in den Kreis der Familie, dies andere Wort für Kraterschlund.
Anika Mauer gibt Blanches Schwester Stella die Hirnweite eines bedauernswerten Huhns, das sich vom Bagger Stanley in fast flehender Liebesblindheit fortwährend überfahren lässt. Und Veit Schubert spielt bezwingend den verhuschten, verhemmten Mutter-Sohn Mitch, der sich an Blanche versucht, arme Kreatur findet zu armer Kreatur, aber schließlich siegt bei Mitch jener muffig-ängstliche Scheinanstand, der sich feige abwendet vom Nervenriss eines doch fast schon geliebten Wesens.
Thomas Langhoff singt wieder überzeugend, unpathetisch und weise sein verständnisvolles Lied vom geschundenen, gescheiterten Menschen – der aufgefangen werden möge. Und sei es »nur« in einem Erbarmen, das sich aus Ahnung speist: Hohe Kultur des Umgangs – das ist nicht die Abwesenheit von Lebenslügen, sondern die aufrichtig liebevolle Art, mit ihnen umzugehen.
Nächste Vorstellung: 31. März
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/193255.geknackt-vom-stumpfsinn.html