nd-aktuell.de / 25.06.2002 / Kultur
Der ganze Thomas Mann
Der S. Fischer Verlag startet die aufwändigste Werkausgabe seiner Geschichte
Klaus Bellin
Nun sind sie, leicht verspätet, da: die Auftaktbände einer Edition, die seit der ersten Ankündigung so viele Vorschusslorbeeren geerntet hat wie selten ein Vorhaben dieser Art. Der S. Fischer Verlag sprach, als er seinen Sonderprospekt druckte, von einem Ereignis, und Leute, die philologischen Aufwand und verlegerische Leistung durchaus beurteilen können, priesen das Unternehmen vorab in hohen Tönen. Wen wundert's: Das renommierte Haus, das vor hundert Jahren mit den »Buddenbrooks« seinem 24-jährigen Autor zum Weltruhm verhalf (s. ND vom 13./14. Oktober 2001), stellt sich der anspruchsvollsten Aufgabe seiner Geschichte. Es wagt sich an ein Mammutprojekt: die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke, Briefe und Tagebücher Thomas Manns, an eine Gesamtschau, wie es sie in dieser Dimension, dieser Vollständigkeit und wissenschaftlichen Akribie noch nicht gab. 38 Bände sollen es werden (auf 58 Teilbände verteilt), und wer die Gesamtausgaben allein der letzten fünfzig Jahre einigermaßen kennt, kann den Rang der neuen Edition leicht ermessen.
1955, als Hans Mayer gemeinsam mit Thomas Mann die »Gesammelten Werke« für den Aufbau-Verlag konzipierte, jene flaschengrünen Leinenbände, die damals für Furore sorgten (und die, gebunden in Halbpergament, der Jubilar in Kilchberg das schönste Geschenk zu seinem 80. Geburtstag nannte), kam man, mit den Essays, auf 12 Bände. Es war, natürlich, eine Veröffentlichung, die vieles ausließ, nicht nur die »Betrachtungen eines Unpolitischen«. 1974 dann, wieder bei Aufbau, gab es zehn Bände Romane und Erzählungen, diesmal mit materialreichen Aufsätzen am Schluss. (Der Versuch Harry Matters, später bei Aufbau Thomas Manns Aufsätze, Reden und Essays vollständig und zudem kommentiert zu publizieren, blieb dagegen bald nach dem viel versprechenden Start stecken. 1986, nach drei Bänden, war Schluss.) Im Westen brachte S. Fischer 1960 eine umfangreiche Werksammlung in 12 Bänden, die 1974 um einen 13. Band mit essayistischen Nachträgen ergänzt wurde (und die 1990 noch einmal in einer schönen Taschenbuchedition erschien), und schließlich, in den 80er Jahren, die Frankfurter Ausgabe in Einzelbänden.
Das alles wird jetzt bei weitem übertroffen. Die neue Frankfurter Edition, realisiert in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv in Zürich, bringt zum ersten Mal das komplette Werk, dazu in acht Bänden etwa 3000 Briefe (von insgesamt 25 000), sämtliche 1200 Essays und zum Abschluss die Tagebücher, das alles textkritisch unter die Lupe genommen und versehen mit einem reichen Apparat. Schon die erste Lieferung mit den »Buddenbrooks«, den »Essays I« und den »Briefen I«, die am Sonntag (bei der Eröffnung einer Ausstellung über Thomas Mann und das Meer) im Lübecker Buddenbrookhaus der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, gibt einen Eindruck vom Niveau der Ausgabe. Der Roman und die Essays aus 20 Jahren reservieren für die Kommentare ein eigenes Buch (nur Briefe und Tagebücher bündeln Text und Kommentar in einem Band).
Allein der Anmerkungsteil zu den »Buddenbrooks« ist mit seinen 748 Seiten beinahe so umfangreich wie der ganze Roman. Eckhard Heftrich, der den Eröffnungsband herausgab und textkritisch durchsah, beschreibt detailliert die Entstehungsgeschichte und leuchtet dabei auch den Hintergrund des Buches aus. Er informiert über die literarischen und geistesgeschichtlichen Quellen des Romans, über die Anregungen, die sich Thomas Mann holte, und die Rezeption. Er bringt einen ausführlichen Stellenkommentar und zuletzt die Blätter, die der Autor aus seiner Familiensaga ausklammerte. Da ist wirklich alles zu finden, was man zur gründlichen Beschäftigung mit dem genialen Wurf des jungen Mannes braucht: von der Chronik der Familie Mann, die, zu ihrem Leidwesen, als Vorbild für die Buddenbrooks herhalten musste, über die Tischordnung beim großen Weihnachtsessen bis hin zum Lexikonartikel über den Typhus, den Thomas Mann ausbeutete, als er von Hannos Krankheit und Tod erzählte.
Auch darin unterscheidet sich dieser »Buddenbrooks«-Band von allen anderen Drucken, die der Ausgabe von 1901 folgten: Der Roman erscheint erstmals wieder in der originalen Fassung. Man kehrt damit zur alten, authentischen Schreibweise zurück, die später durch Modernisierungen verwässert und schließlich eliminiert wurde. Nun heißt es wieder »That« und »thun«, und aus Kontor wird das ursprüngliche Comptoir. Auch alle anderen Romane, Erzählungen und Essays werden von späteren Eingriffen, Unzulänglichkeiten und Irrtümern befreit. Insgesamt sind 15 namhafte Thomas-Mann-Experten aufgeboten, um die Texte gründlich zu prüfen, Fehler, die sich seit langem von Ausgabe zu Ausgabe schleppen, auszumerzen und für den Apparat zu sorgen.
Die Ausgabe, die, wenn alles gut geht, im Jahr 2015 fertig sein soll, wird der Forschung endlich die sichere, seit langem vermisste Grundlage geben, und es sind, aus verständlichen Gründen, auch die Fachleute, die jetzt am lautesten jubeln. Freuen können sich aber ebenso alle anderen, die ein bisschen tiefer in die Welt des Autors eintauchen möchten. Sie kriegen die beste und zuverlässigste Thomas-Mann-Edition, die es gibt, zudem eine, die sich, gestaltet vom Schweizer Grafiker und Buchgestalter Jost Hochuli, in angemessener Ausstattung zeigt: nobel, dezent und modern.
Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke - Briefe - Tagebücher. S. Fischer Verlag. Band 1.1: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Band 1.2.: Kommentar. 844S. u. 748S., geb., zus. 76 EUR. Band 14.1: Essays I 1893-1914. Band 14.2: Kommentar. 420S. u. 686S., geb., zus. 82 EUR. Band 21: Briefe I 1889-1913, 936S., geb., 95 EUR.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/19445.der-ganze-thomas-mann.html