Philipp Boy will Fabian Hambüchen beerben, doch auch die anderen deutschen Turner haben Medaillen im Visier. Während der an der Achillessehne operierte Hambüchen auf der Reportertribüne Platz nimmt und sich Boden-Titelverteidiger Matthias Fahrig in der Bundeswehr-Kaserne bei der Grundausbildung plagt, gilt Boy bei den Heim-Europameisterschaften der Turner in Berlin als der große Thronkandidat.
»Mittlerweile hat Deutschland mitbekommen, dass Turnen mehr ist als Hambüchen«, sagte Boy, der im Mehrkampf und am Reck als einer der Favoriten in die fünften europäischen Titelkämpfe auf deutschem Boden geht. Am Donnerstag beginnt für die deutschen Männer die Qualifikation, in der die Weichen für die Finals am Wochenende gestellt werden müssen.
»Bei dieser EM zählt nur Hop oder Top. Mit Sicherheitsübungen hat keiner eine Medaillenchance«, gibt Cheftrainer Andreas Hirsch den Kurs vor. Soll heißen: Es gibt in Berlin keinen Teamwettbewerb, bei dem taktisch geturnt werden muss. Nur Risiko wird belohnt. Medaillenvorgaben vom Deutschen Turner-Bund (DTB) gibt es nicht. »Wir wollen mit guten Leistungen aufwarten. Und Leistung bedeutet auch Medaillen«, umschreibt DTB-Sportdirektor Wolfgang Willam die Erwartungen.
Philipp Boy tut indes alles, um erst gar nicht den Druck aufkommen zu lassen. »Ich bin prima in Schuss, aber Druck kann ich mir nur selber machen. Ich will meine Übungen gut durchbringen«, sagte der 23-jährige Cottbuser. Als Vizeweltmeister war er in Rotterdam bester Europäer. »Aber jetzt daraus abzuleiten, dass ich hier nur gewinnen kann, wäre total falsch«, fügte er hinzu. Hirsch hatte im Vorfeld viel Psychologie in die Trainingsarbeit einfließen lassen. »Für ihn eine völlig neue Situation: Philipp muss nun den Rucksack des Vizeweltmeisters ablegen«, sagte er. Aus Last soll Lust werden. Lust an Medaillen, Lust an Siegen.
Das gilt auch für das Reck, an dem Boy beim letzten Test in Dessau nach Patzern an anderen Geräten eine Glanzleistung zelebrierte und mit dem hohen Schwierigkeitsgrad 7,4 zu den Favoriten avancierte. Im Vorjahr war er in Birmingham schon Dritter, bei der WM Vierter hinter Hambüchen. Nun will er auch am Königsgerät in die Fußstapfen von Hambüchen treten, der schon dreimal am Reck den EM-Titel holte.
»Ich brauche schon noch ein, zwei Erfolge, um so interessant zu werden wie er«, räumte Boy ein, während der Ex-Weltmeister aus Hessen seinem Rivalen durchaus zutraut, dass »der Titel in Deutschland bleiben« könnte. Vielleicht ein erster Schritt zur Versöhnung beider Stars, seitdem nach Boys Kritik an Hambüchens Autobiografie eher harte Worte angesagt waren.
Die deutschen Turner hoffen auf große Unterstützung des Publikums, nachdem bisher fast 20 000 Karten weggingen. »Die Fans wollen uns kämpfen sehen. Und das werden wir ihnen zeigen«, meinte Boy. Auch Marcel Nguyen ist nach seinem Wadenbeinbruch im vergangenen September wieder da und hofft auf das Mehrkampf-Finale. Der Unterhachinger hat nach fast vier Monaten Belastungspause zwar noch Trainingsrückstand, rechnet sich aber insgeheim auch an seinem Spezialgerät Barren eine Chance aus.
Bei den Frauen gilt die WM-Achte Elisabeth Seitz als »heißes Eisen«. Sie hat nach ihrer Fußoperation ihre Übungen weiter aufgestockt und konnte zuletzt als Dritte von Paris überzeugen. Ob die fast 36-jährige Oksana Chusovitina beim Sprung noch einmal so einen Coup landen kann wie 2008, als sie das erste EM-Gold für die DTB-Frauen überhaupt holte, muss abgewartet werden.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/194853.buehne-fuer-boy-ist-bereitet.html