nd-aktuell.de / 07.04.2011 / Kultur / Seite 17

Das Gedicht als Schichtenkopf

Wilhelm Bartsch: »Gebrauchte Landschaft« – Mitteldeutschland

Jürgen Engler

Walter Bauer, Dichter des mitteldeutschen Industriegebietes in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und von Bartsch verehrt, schrieb in »Treibende Unruhe – Land der Herkunft«: »Immer war diese Landschaft offen, und viele kamen, andere wurden fortgedrängt, so verlor es nie die Unruhe, und Unruhe blieb das Zeichen des mitteldeutschen Landes ...« Auch Bartsch ist ein Dichter dieser Unruhe und der geschichtlichen, sozialen Turbulenzen. In sprachmächtigen Gedichten werden die De-Industrialisierung einer Region, die sozialen Verwerfungen, die Umgestaltung einer Landschaft ins Bild gesetzt. »Nun nennen sie das hier ringsum Neuseeland/ ins Südliche Schlachtfeld Napoleons und Ulbrichts/ kommt wieder nach Sachsen ein Vortrupp des Meers ...« (»Die Küste wächst im wüsten Raum«)

Diese Verse sind symptomatisch für Bartschs Blick auf (Erd-)Geschichte als vielfältig Geschichtetes. Es gibt wohl keinen anderen heutigen deutschen Dichter, der so wie er eine Panorama-Schau von erdkundlicher und geschichtlicher Landschaft bietet. Erich Arendt richtete einen vergleichbaren Blick auf die Inselwelt des Mittelmeeres und auf die griechische Antike. Bartsch fasziniert mehr das Nordische und Germanische – vor allem aber ist Mitteldeutschland seine poetische Provinz, das Mansfeldische zumal, wo Novalis, der romantische Poet der »Hymnen an die Nacht« und der Bergbau-Pionier, der Salinenassessor und Amtshauptmann wirkte. Bartsch widmet ihm den Zyklus »Licht der Erde Salz des Himmels«. Auf eine »Gebrauchte Landschaft« wird das Loblied gesungen, auf die Werk-Tätigkeit einer Kultur- und Geisteslandschaft: »Fabel fährt Schlittschuh auf geronnener Zeit / Wer in die Tiefe will hat es nicht weit«

Bartschs Poesie könnte als Grabungs- und Grubenarbeit klassifiziert werden, als Berg-Werk mit Mundlöchern, Klagen, Gängen, Blindgängen, Vorgängen, Einschlüssen, Schächten, Querschlägen, Fahrten zu verbrochenen Strecken. Stollen werden vorgefunden aus alten Zeiten und weitergetrieben oder neue werden angelegt. Faltungen und Verwerfungen der Gesteinsschichten können, so die Terminologie des Geologen, als Schichtenkopf an die Erdoberfläche kommen.

Was es mit dem Fortschritt auf sich hat, zeigen »Drei Albumblätter aus dem Herzen der Romantik« über die Völkerschlacht bei Leipzig. Der Disput beispielsweise von Feldarzt Wenzel Krimer, Lützower Jäger und Erfinder des »Wundpäckchens«, mit Hendrik Steffens, romantischem Naturkunde-Professor, konfrontiert uns mit der aktuell gebliebenen Einsicht, wie sehr doch zivilisatorische Errungenschaften Produkte des Krieges sind. Dem Anatomen und Entwicklungsbiologen Johann Friedrich Meckel dem Jüngeren, Begründer der Teratologie, der Missgeburtenlehre, ist der Zyklus »Fabrica Aliena« gewidmet. »Doppelhelix – Doppelsinn – / alles ist im Leben drin.«

Die zwischen Tod und Leben gespannte Doppelnatur alles Seienden ist, auch wenn sie nicht direkt thematisiert wird, als diabolischer, dialektischer Unruhestifter in allen Texten Bartschs am Werke. In seiner rhythmisch-kraftvollen und metaphorisch überraschenden Sprache ist er, aus mythischen und historischen Überlieferungen schöpfend, ein Dichter des Erhabenen; er weiß sich dabei, dem Feierlichen abhold, des Sarkastischen und grob Umgangssprachlichen kontrastreich zu bedienen. Seine Landschaften weiten sich ins Tellurische und Kosmische: »Gleich unter uns lodert der Erdball gleich über uns / weht Vakuum beinahe staubfrei – so dünn / läuft ab hier der Film gleich beim Drehen der Welt«

Wilhelm Bartsch: Mitteldeutsche Gedichte. Mitteldeutscher Verlag. 136 S., geb., 16 €.