In nicht einmal vier Wochen fallen die Grenzen – zumindest die des EU-Arbeitsmarktes. Was in der Europäischen Union schon lange Normalität ist, gilt dann auch für sie: EU-Bürgerinnen und Bürger aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Lettland, Estland, Litauen, Ungarn und Slowenien, die bislang nur stark eingeschränkt – etwa als Selbstständige – in Deutschland ar-beiten durften, können ab dem 1. Mai uneingeschränkt Anstellungen annehmen. Die Menschen in Rumänien und Bulgarien müssen dagegen noch auf die volle Freizügigkeit warten. Sie kamen drei Jahre später in die EU, deshalb gelten für sie andere Übergangsfristen.
Im Rahmen der EU-Osterweiterung im Jahr 2004 konnten die alten Mitgliedstaaten die Arbeitnehmerfreizügigkeit für maximal sieben Jahre einschränken. Während beispielsweise England, Irland oder Schweden von Beginn an die volle Freizügigkeit gewährten, nutzten Deutschland und Österreich die Möglichkeiten zur Beschränkung voll aus. Allein Schweden öffnete seinen Arbeitsmarkt von Beginn an auch für Menschen aus Rumänien und Bulgarien.
Ein Grund war, dass es in Deutschland keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt und dass erst einmal die Rahmenbedingungen geschaffen werden mussten, um die entsandten Beschäftigten vor miesen Arbeitsbedingungen und Lohndumping zu schützen, sagt Jutta Krellmann, Sprecherin für Arbeitspolitik der Linksfraktion.
Im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales wurden am Montag zu Anträgen von der SPD- und Linksfraktion Experten gehört. Die AutorInnen begrüßen zwar das Ende der Beschränkungen für osteuropäische ArbeitnehmerInnen, fordern jedoch Schutzmaßnahmen für Beschäftigte. Zu den Forderungen, bei denen die beiden Oppositionsparteien übereinstimmen, gehören die Aufnahme aller Branchen in das Arbeitnehmerentsendegesetz, der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn, die Maxime »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsort« sowie mehr Personal für die Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll zur besseren Überwachung der Einhaltung von Tarifverträgen.
In der Anhörung waren sich die Experten einig, dass Ängste vor der Freizügigkeit wegen negativer Auswirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt oder die Wirtschaft unbegründet sind. Beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, dem Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit (IAB), gehe man von 50 000 bis 130 000 Arbeitsmigranten jährlich aus, ab dem Jahr 2020 werde diese Zahl aber fallen. Eine Prognose sei schwierig, sagte Wissenschaftler Martin Dietz vom IAB, da es eine »Umlenkung bisheriger Migrationsströme« dadurch gegeben habe, dass insbesondere Irland und Großbritannien ihre Arbeitsmärkte früher geöffnet hätten. ArbeitnehmerInnen sind also in den letzten Jahren bereits dorthin gewandert.
Auch Roland Wolf von der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) geht davon aus, dass es keine »Friktion« (Reibung) auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch die Zuwanderung geben werde. Im Gegenteil werde man den hohen Fachkräftebedarf, den es in Deutschland gebe, nicht aus dem vorhandenen Potenzial decken können. Aufgrund einer starken Bildungsexpansion in den neuen Beitrittsländern sei überwiegend mit jungen und hochqualifizierten Arbeitnehmern zu rechnen, so Dietz. Das gelte im Übrigen auch für Bulgarien und Rumänien.
An der Stelle endete die Einigkeit der Sachverständigen indes. Die BDA lehnt einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ebenso entschieden ab wie die Aufnahme aller Branchen ins Arbeitnehmerentsendegesetz. Sie sieht die Gefahr des Missbrauchs, wenn denn alle Branchen aufgenommen würden. Das könnte zu Wettbewerbsbehinderung oder -verhinderung führen. Das Gleiche gelte für den gesetzlichen Mindestlohn. DGB-Vorstand Annelie Buntenbach sieht das anders. Mit der Ausweitung des Entsendegesetzes würden Mindeststandards verbindlich und flächendeckend festgelegt. Und mit dem Mindestlohn würde eine Untergrenze eingezogen, »die sicherstellt, dass der Druck am Arbeitsmarkt nicht so fortgesetzt werden kann, wie das jetzt im Moment der Fall ist«.
Welche Branchen sind gefährdet? Wo müssen Regelungen her? Und was sagen die Gewerkschaften? Wie können sich ausländische ArbeitnehmerInnen informieren? Teil 2 der Serie nächste Woche an dieser Stelle.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/195023.druck-auf-die-loehne-muss-aufhoeren.html