nd-aktuell.de / 26.04.2011 / Kultur / Seite 15

Nur sehen, staunen, lieben

Wiederentdeckt: Franz Hessel und seine Sammlung »Spazieren in Berlin«

Klaus Bellin

Er war ein leiser, unauffälliger Mensch und ein Autor voller Anmut und Grazie. Noch immer verfügt er über eine kleine Gemeinde enthusiastischer Leser, aber jenseits dieses Kreises ist er fast unbekannt. Ziemlich selten trotzt, zur Freude der Kenner, ein Verlag dem Trend und bringt einen kleinen Roman oder einige der Berliner und Pariser Skizzen ans Licht, und einmal, 1999, gab es im kleinen Igel-Verlag sogar eine fünfbändige Ausgabe »Sämtlicher Werke«. Zu bescheidener Renaissance dieses Autors hat es trotzdem nie gereicht. »Ja, wissen Sie denn nicht, daß Hessel ein Zauberer ist?« So fragte, ziemlich verwundert, schon Walter Benjamin. Gemerkt haben's die wenigsten.

Vielleicht gelingt es ja diesmal, ihm neue Leser zu gewinnen. Der Verlag für Berlin-Brandenburg hat, besorgt von Moritz Reininghaus, in einer schön gestalteten Ausgabe eins der stärksten Hessel-Bücher wieder gedruckt: »Spazieren in Berlin«, die legendäre Sammlung von 1929 mit Stadtansichten voller Farben und Gerüche, ein »Bilderbuch in Worten», wie es damals auf dem Umschlag hieß, das Meisterstück des Flaneurs.

Im berührenden Geleitwort erzählt der greise Sohn Stéphane Hessel, der in Frankreich gerade mit seiner Streitschrift »Empört euch!« für Aufsehen sorgt, wie man vor Jahren in einem Literaturarchiv fünf Seiten fand, auf denen der Vater seinen beiden Sprösslingen Teile des Buches zur Lektüre empfahl, in der Hoffnung, sie könnten davon profitieren. Stéphane war 1929 ein Pariser Junge von zwölf Jahren, für den Franz Hessel »ein entferntes, aber bewundertes Vorbild« war, zärtlich, bescheiden, voller Verantwortungsgefühl. Gelesen hat er ihn erst später. Und fand im Autor der Berlin-Spaziergänge eine »Initiationsfigur«. Das Werk des Vaters, schreibt er, wurde lebendig »und wirft nun, im Einklang mit t Brecht und Walter Benjamin, ein prophetisches, melancholisches Licht auf das erste Drittel des vergangenen Jahrhunderts«.

Franz Hessel kam aus Stettin, wo er 1880 geboren wurde, landete früh in Berlin und bald darauf, lebenshungrig und unerfahren, in München, in der Schwabinger Bohème und im Kreis der Franziska zu Reventlow. 1906 ging's nach Paris, er lief durch Museen, Straßen, Gärten, und was als Besuch gedacht war, wurde ein jahrelanger Aufenthalt und eine Liebe, die er in seinen zarten Prosastücken immer wieder beschwor. Erneut saß er unter Malern und Literaten, die sich von ihm, dem wohlhabenden Sohn einer Kaufmanns- und Bankiersfamilie, aushalten ließen. Er lernte Henri Pierre Roché kennen, den wichtigsten Freund seines Lebens, danach auch Helen Grund, seine spätere Frau, und es sollte nun nicht mehr lange dauern, bis jene Dreiecksgeschichte begann, die sein Leben dominierte und 1962 für einen Welterfolg in den Kinos sorgte.

Roché hat die knisternde Geschichte einer freien Liebe, als Hessel schon tot war, im Roman öffentlich gemacht. Das Buch »Jules und Jim«, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Paris publiziert, lange kaum beachtet, wurde über Nacht berühmt, weil es zufällig einem jungen Mann, Francois Truffaut, in die Hände gefallen war. Der machte daraus einen Film. Noch heute weiß mancher von Hessel nur, weil er sich an dieses erotische Leinwandstück erinnert.

Freilich: So unbeschwert und romanhaft, wie Truffaut suggeriert, ging es im wahren Leben nicht zu. Es gab eine Scheidung, hinterher die nochmalige Heirat. Hessel kehrte allein nach Deutschland zurück, wurde Lektor bei Rowohlt, übersetzte Balzac, Casanova und, gemeinsam mit Walter Benjamin, Marcel Proust, und er schrieb seine wichtigsten Bücher, den Roman »Heimliches Berlin«, den Erzählungs- und Skizzenband »Teigwaren leicht gefärbt«, das Prosabuch »Nachtfeier«, die bezaubernden Stücke seiner Sammlung »Spazieren in Berlin«.

Wir wollen, schrieb Hessel am Schluss seines Buches, »ein wenig Müßiggang und Genuß lernen und das Ding Berlin in seinem Neben- und Durcheinander von Kostbarem und Garstigem, Solidem und Unechtem, Komischem und Respektablem so lange anschauen, liebgewinnen und schön finden, bis es schön ist.« So zieht er durch die Stadt und sieht sich um, schlendert über die Boulevards, absichtslos, er besichtigt Kreuzberg, Tempelhof und die Hasenheide, fährt ins Zeitungsviertel, in die Friedrichstadt oder nach Köpenick. Bedächtig läuft er umher, mit wachen Sinnen und beständiger Neugier, er betrachtet Friedhöfe, Mietskasernen, Theater und Parks, Caféterrassen, Schaufenster, Autos, Bäume. Er spart alles Politische aus, aber wo sein Herz schlägt, verheimlicht er nicht. Etwa, wenn er am Landwehrkanal steht, auf der Brücke nahe der Schleuse, wo man Rosa Luxemburg tötete. Gleich denkt er daran, dass »die Stille dieser Brücke einmal entweiht worden ist von Schurken, die ein paar Schritte weiter den sterbenden Leib einer edlen Kämpferin, welche ihre Güte und Tapferkeit mit dem Tod büßen mußte, ins Wasser warfen«.

Hessel ist nicht der Beobachter, der von oben herab auf dieses Berlin blickt, er ist mittendrin, jemand, der alles wissen will. Er registriert, wie sich die Stadt verändert, sucht ihre Atmosphäre, ihren Charme, ihre Gegensätze, ihre Mythologie dann formt er aus all seinen Eindrücken seltene, beinah schwerelose Kunstwerke. Er war Meister in diesem Fach, sanft und leise, mit Vorliebe für die Arabeske und Blick für das Unscheinbare, die kleinen Dinge des Lebens. Er wollte ja nichts beweisen, nur sehen, staunen und lieben.

Franz Hessel hat es in Berlin noch lange ausgehalten, fast zu lange. Erst 1938 kehrte er, gedrängt von seiner Frau und den Freunden, nach Paris zurück. Er ging nach Sanary-sur-Mer, wo sich viele deutsche Emigranten versammelt hatten, wurde von der Vichy-Regierung, zusammen mit seinem Sohn Ulrich, im Sommer 1940 ins Internierungslager Les Milles gesteckt, musste alle Widerstandskräfte mobilisieren und kaschierte die Schwäche des Körpers mit unendlicher Tapferkeit. Er hat sich von den Leiden in der schändlichen Gefangenschaft nicht mehr erholt. Als man ihn frei ließ, blieb ihm nur noch ein knappes halbes Jahr. Am 6. Januar 1941 ist Hessel an Entkräftung gestorben.

Er ist nur 60 Jahre alt geworden. Sein Sohn Stéphane, heute 93, berichtet, wie er den Band »Spazieren in Berlin« als Botschaft las, als »Botschaft aus dem noch nicht von Nazi-Gräueln entwürdigten und zerstörten, hin zu dem endlich vereinigten und zeitgemäß geschönten Berlin des jungen einundzwanzigsten Jahrhunderts«. Jahr um Jahr, sagt er, komme ihm die Botschaft des Vaters näher. »Ohne sie, so scheint es mir heute, können wir die bedrohliche, gefährliche, zerbrechliche Gesellschaft unserer Zeit nicht bewältigen. Aus der Erschütterung, die er nicht überlebte, trifft sein Lächeln mich tiefer als jeder Schrei.«

F. Hessel: Spazieren in Berlin. Hg. von M. Reininghaus. Verlag für Berlin-Brandenburg. 235 S., geb., 19,90 €.