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Stadtbad Steglitz

Amoklauf gegen sich selbst

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

Heute ist es passiert. Mit diesen Worten knipst Poprischtschin das Licht in der Kleiderkammer aus, holt aus dem Wandschrank sein Tagebuch, setzt sich an den Tisch, trägt ein: Ich habe verschlafen. Das ist der Anfang vom Ende. Bisher konnte der kleine Beamte in hoffnungsloser Position seinen Existenzsinn aus einer beinah maschinenhaften Zuverlässigkeit beziehen. Der unverzeihliche Fehler ist jedoch nur der eine Stich ins Herz; den anderen hat ihm die Tochter seines Chefs versetzt. In sie ist er unsterblich verliebt, seit er sie aus dem väterlichen Wagen in ein Geschäft für Damenunterwäsche hat gehen sehen. Einmal in die Wohnung der Exzellenz dürfen, ins Badezimmer mit all den Döschen und Fläschchen, ins Schlafzimmer der Tochter, welch Paradies! Denn schließlich dünkt sich Poprischtschin nicht irgendwer: Immerhin darf er im Vorzimmer jenes Direktors sitzen, ihm die Bleistifte anspitzen, je elf harte und weiche und einen roten.

Das ist der Gemütszustand eines Staatsangestellten, wie ihn Nikolai Gogol in seinem Monolog »Tagebuch eines Wahnsinnigen« 1835, auf der Höhe seiner Dichtkunst, in grotesk satirischer Überhöhung beschrieben hat. Der ukrainische Gutsbesitzerssohn wusste wohl aus eigener Erfahrung, wovon er sprach: Weder als niederer Beamter noch als Geschichtsprofessor konnte er im Petersburg des Zaren Fuß fassen. Puschkin wurde sein Freund und Förderer, ehe Gogol, ohnehin von schwächlicher Konstitution, an Schizophrenie und religiösem Wahn starb. Welch äußere Umstände ebenso dazu beigetragen haben, lässt sich neben anderen Werken auch am unversteckten Aufschrei in diesem Meistermonolog ahnen. Die Dortmunder Regisseurin Kathrin Brune hat das gern gespielte Stück fürs Stadtbad Steglitz eingerichtet und dort in die Alte Näherei verlegt. Sie enthält auch einen Küchentrakt, und das verleiht dem Spielort häusliches Ambiente. Zwischen Einträgen ins Tagebuch, Essenszubereitung, lethargischem Warten auf dem Sofa vollzieht sich Poprischtschins Tag: sein Abhandenkommen aus einem unerfüllten Leben.

Der Buchhalter, daheim von der Gattin geschlagen, verweigert ihm den Vorschuss, der Büroleiter schikaniert ihn – aus Neid, wie der Beamte mutmaßt; niemand beachtet ihn wirklich. Da macht er eine vorkafkaesk gleichnishafte Entdeckung: Der Hund der Tochter kann mit menschlicher Stimme reden, hat gar Briefe mit einem anderen Vierbeiner ausgetauscht. Rigoros drängt sich da Poprischtschin in die Wohnung der Exzellenz und verschafft sich die Korrespondenz der Tiere. Was er darin liest, befördert den Abstieg: Das Mädchen hat einen Kavalier, will heiraten, belacht ihn, den Beamten, als Missgeburt aus Papas Vorzimmer. Ja, wenn er doch nur eine Generalsuniform hätte! Ein politischer Zufall besiegelt den Untergang: In Spanien sucht man einen König, also ihn. Über dieser Rolle verliert er jeden Realitätsbezug, gibt die Arbeit auf, wird von der »Delegation« aus »Spanien« in eine Anstalt eingewiesen.

Ulrich Lenk, Absolvent der Ernst-Busch-Hochschule, von robuster Statur, spielt kraftvoll den Amoklauf eines Verachteten. Alles ballt, bündelt sich auf engem, kargem Raum, wie auch das Leben keinerlei Spielraum mehr lässt. Denkbar wäre allerdings eine differenziertere Rollengestaltung.

30. April, Stadtbad Steglitz, Bergstr. 90, Tel.: (030)-54 77 31 18

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