nd-aktuell.de / 02.05.2011 / Brandenburg / Seite 13

Zuckerwatte statt roter Nelken

Auf dem Kreuzberger Myfest feiern Tausende tagsüber entspannt den 1. Mai

Jenny Becker
Diabolische Akrobatik vor dem Bethanien auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg
Diabolische Akrobatik vor dem Bethanien auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg

Lärm und blauer Rauch ziehen über den Straßen. Tausende Menschen schieben sich durch das Gebiet zwischen Kottbusser Tor, Oranienstraße und Mariannenplatz. Kreuzberg begeht den 1. Mai. Allerdings nicht mit Wurfgeschossen und Parolen, sondern mit Bratwurstständen und viel Musik. Zum neunten Mal hat am Sonntag das Myfest stattgefunden. Am Mittag tanzten die ersten Besucher mit Cocktailbechern auf den Straßen, nachmittags konnte man sich nur noch im Schritttempo bewegen, so dicht war die bunte Menge aus Familien, Punks, Rastafaris und Rentnerpaaren. Die Atmosphäre war entspannt und friedlich – ein Volksfest wie es im Buche steht.

Das Straßenfest mitten in Kreuzberg wird seit 2003 von einem Bündnis aus Anwohnern, Gewerbetreibenden und Initiativen organisiert, in Zusammenarbeit mit dem Bezirk und der Polizei. Die Idee: Indem man den Kiez mit friedlichen Menschen und Festatmosphäre überzieht, werden Ausschreitungen im Zusammenhang mit der Revolutionären 1. Mai-Demo verhindert, die am Kottbusser Tor beginnt. Tatsächlich gilt das Myfest als Grund für den zunehmend milden Verlauf der traditionellen Proteste. Die Kreuzbergerin Gabriele freut das. Mit einer großen Mülltonne im Schlepptau ist sie an diesem Tag ehrenamtlich unterwegs, um das Gebiet von Flaschen, also »potenziellen Wurfgeschossen«, frei zu halten. »Viele Anwohner helfen dabei, dass der 1. Mai zum friedlichen Familienfest wird«, erzählt sie begeistert.

Für die Bewohner, die einen der Stände am Straßenrand betreiben, ist das Myfest auch eine lukrative Einnahmequelle. Ganze Familien sitzen hinter den Tischen und verkaufen Köfte, Steak oder selbstgebackenen Kuchen. Die 26-jährige Anna ist zum ersten Mal als Verkäuferin dabei. Die letzten Jahre war sie selbst Besucherin, nun will sie vom zunehmenden Andrang profitieren. Gleichzeitig ärgert sie sich, dass das Fest »immer furchtbarer und kommerzieller geworden ist«. Auch der gemeinschaftsstiftende Nachbarschaftsgedanke, der ursprünglich geherrscht habe, fehle. »Die Stadt hat das Myfest größtenteils in der Hand und hat ein taktisches Event daraus gemacht.«

Auch auf der offiziellen Internetseite des Festes häufen sich missmutige Kommentare über die Kommerzialisierung. »Am besten 2012 noch eine Achterbahn und eine Schießbude aufbauen«, witzelt einer. Tatsächlich sind rote Nelken und Transparente kaum zu sehen, dafür Zuckerwatte, Stelzenläufer und Kinderschminke.

Ganz unpolitisch verläuft dieser sonnige 1. Mai trotzdem nicht. Im Bethanienpark hat sich das »Barrio Antifascista« eingerichtet und die Initiative Genova Libera dabei unterstützt, den Platz symbolisch umzubenennen. Auf einem Pfeiler prangt nun ein metallener Stern, in den der Name »Carlo Giuliani Park« eingraviert ist – ein Andenken an den Demonstranten, der vor zehn Jahren während der G8-Proteste in Genua von der italienischen Polizei erschossen wurde.

Raum für politische Diskussionen bietet auch das Mariannenplatzfest, das jährlich von den Grünen und der Linkspartei organisiert wird und an das Myfest angrenzt. Auf der Wiese zwischen den Ständen der Parteien und Initiativen drängen sich Menschen auf Picknickdecken, an Kinderwagen hängen rote und grüne Luftballons. »Es gibt hier viele Möglichkeiten, sich auszutauschen und kritisch ins Gespräch zu kommen«, findet die Grünen-Politikerin Antje Kapek. Den Aufruf der Autonomen zur Protestaktion mitten auf dem Mariannenplatzfest, der im Internet kursierte, kann sie nicht verstehen.

In dem Aufruf heißt es, man wolle sich durch Myfest und Mariannenplatzfest nicht befrieden lassen – denn dessen Veranstalter seien »für Mietexplosion und Ausgrenzung direkt politisch verantwortlich«. An den Parteiständen weist man eine mögliche Einflussnahme auf das Problem von sich. Die Demonstration verläuft dann weniger wütend, als angekündigt. Ein- bis zweihundert Menschen mit roten Fahnen skandieren »Alles für alle«. Es bleibt friedlich. Viele Familien wollen das Fest um 18 Uhr, wenn die große Demo beginnt, dennoch verlassen – ganz traut man dem Frieden hier noch nicht.